Von Peter Hossli und Carole Koch (Text) und Sohaib Ghyasi on Unsplash (Foto)
Schüsse fielen nicht, als die Taliban letzten Sonntag in Kabul eintrafen. Sie posierten vor westlichen Kameras, die Augenbrauen fein säuberlich gestutzt. In nahezu perfektem Englisch erklärten sie ihre Absichten – und verbreiteten vor allem eines: Optimismus für die Zukunft. Ihre Aussagen und der Duktus erinnerten an Manager eines westlichen Konzerns, die eben ihren Börsengang erfolgreich hinter sich gebracht hatten.
Dieser Eindruck ist nicht falsch. Die Machtergreifung durch die Taliban in Afghanistan ist vor allem Big Business, ein grosses Geschäft. Übernommen hat in Kabul eine Gangsterbande, die Experten der Uno als «grösstes Drogenkartell der Welt» bezeichnen. Sie dürften das Land am Hindukusch in einen modernen Narco-Staat verwandeln: Das Kabul–Kartell der Taliban geht auf Augenhöhe mit dem berüchtigten mexikanischen Sinaloa-Kartell. Das lateinamerikanische Kartell und die Taliban ähneln sich schon jetzt: Beide geben sich gottesfürchtig und agieren blutrünstig.
Bereits vor der Machtübernahme zogen die Islamisten hohe Abgaben ein bei afghanischen Heroin- und Cannabis-Produzenten. Zusätzlich kontrollieren die Taliban nun alle Grenzen des Binnenlandes und somit den Handel mit Opium und Methamphetamin. «Bisher hat die afghanische Regierung mehr von der Drogenproduktion profitiert als die Taliban», sagt David Mansfield von der London School of Economics. Seit 25 Jahren analysiert er Handel und Produktion von Drogen in Afghanistan. «Mit demMachtwechsel verringern sich die Kosten, und die Gewinne steigen.» Weil innerhalb Afghanistans niemand mehr die Taliban am Drogengeschäft hindert.
Sie haben aus früheren Fehlern gelernt. Vor 21 Jahren verboten die Taliban noch aus religiösen Gründen den Anbau von Opium, was sie den Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung und die Macht gekostet hatte. Jetzt, als die neuen Barone, könnten sie den Anbau sogar legalisieren. Dank ihrer Nähe zum Emirat von Katar stehen ihnen zudem die Finanzströme offen, um Drogengelder zu waschen. Es wäre naiv, die Taliban als Hinterwäldler zu bezeichnen. Sie betreiben moderne Landwirtschaft mit riesigen Farmen. Schlafmohnfelder mit lila Blüten überziehen den Südwesten des Landes. Aus den Kapseln der bis zu 1,5 Meter hohen Pflanzen gewinnen Afghanen dasRohopium und stellen daraus Heroin her. Um ihre Kulturen vor Insekten und Pilzen zu schützen, versprühen sie Pestizide. Solarstrom betreibt ihre Maschinen. Sie entwickelten neue Pflanzensorten, die sich drei- statt wie bisher nur zweimal im Jahr ernten lassen. Um die Anbauflächen auszudehnen, holen Farmer Grundwasser aus Tiefen von bis zu 100 Metern. Damit sind sie gegen trockene Jahre gefeit.
Die Industrialisierung zeigt Wirkung. Allein letztes Jahr stieg die afghanische Opium-Produktion um 37 Prozent, hält das Uno-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) in einem Bericht fest. Afghanistan exportierte 2020 geschätzte 6300 Tonnen Opium mit einem Exportwert von 1,5 bis 3 Milliarden Dollar. 85 Prozent des globalen Heroinangebotes stammen laut Uno aus dem Land, 60 Prozent davon kontrollierten bis anhin die Taliban. Es dürften bald 100 werden.
Ein sicheres Geschäft ist Opium allerdings nicht. Es ist teuer, in Afghanistan Heroin herzustellen, die Gewinnmargen sind tief. Und im Westen findet die Droge wegen ihres Loser-Images wenig Gefallen.
Doch das Kartell weiss sich zu helfen – und hat diversifiziert. Bei Lieferungen von 100 Kilogramm Heroin legen afghanische Händler oft noch 5 Kilogramm Amphetamin bei – Crystal Meth, das durch die TV-Serie «Breaking Bad» bekannt geworden ist. Die Sonderlieferung soll alte Kunden auf ein neues Produkt aufmerksam machen: pflanzliches Meth.
Gemäss einem neuen Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) dürfte Afghanistan zu einem weltweit bedeutenden Produzenten und Lieferanten von Meth werden – weil das Land beste Voraussetzungen hat, das gefragte Rauschmittel günstiger herzustellen, als das die mexikanischen Kartelle oder die Meth-Köche im Goldenen Dreieck zwischen Laos, Thailand und Burma bereits tun.
Möglich macht das ein Strauch, der in den gebirgigen Regionen Afghanistans auf einer Höhe von über 2500 Metern gedeiht: Ephedra, Meerträubel genannt. Das Kraut wächst über mehrere Jahre heran und wird zwischen Ende Juli und Oktober geerntet. Dann steigen afghanische Bäuerinnen und Bauern mit Sicheln die Berge hinauf. Sie tragen ihre Ernte in die Dörfer, wo das Kraut 25 Tage im Freien trocknet und in Säcke verpackt in Hunderte von Laboratorien geliefert wird. Meth-Köche gewinnen aus demKraut biologisches Ephedrin, das sie kristallisieren.
Die Herstellung ist einfach – und günstig. Da das Ephedrin natürlich und nicht aus teuren Medikamenten gewonnen wird, kann Crystal Meth in Afghanistan zu einem Zehntel der Kosten südostasiatischer Länder hergestellt werden – und kommt trotzdem zum selben Preis auf den Markt, erklärt David Mansfield, der Autor der europäischen Studie. Die Afghanen investieren die höheren Gewinnmargen in den Ausbau ihrer Produktion.
Bereits jetzt ist das Land in der Lage, jährlich rund 1000 Tonnen Meth zu produzieren und auf den Weltmarkt zu bringen. Da die Handelsrouten nach Europa, Ozeanien und die USA für Heroin etabliert sind, dürfte in den nächsten Monaten und Jahren mehr afghanisches Meth in diese Regionen gelangen.
Wie «big» das Business mit Rauschmitteln aus Afghanistan wirklich ist, darüber sind sich die Experten nicht einig. Die Taliban haben bei Produzenten bisher steuerähnliche Abgaben eingetrieben. Die Uno schätzt ihren Wert für das Jahr 2020 auf 400 Millionen Dollar. Bei ihren Berechnungen gehen die Experten von einem Steuersatz von 10 Prozent auf den Exportwert aus. Dem widerspricht der unabhängige Experte Mansfield. «Die Uno-Zahlen sind falsch, sie gehen vom Marktwert aus und nicht von den Produktionskosten», sagt er. Die Taliban seien technisch nicht in der Lage, eine Mehrwertsteuer einzutreiben. Die Abgaben würden aufgrund des Volumens und des Gewichts erhoben. Heroin- und Meth-Produzenten erzielten eine Marge von höchstens zehn Prozent. Müssten sie ihren gesamten Gewinn den Taliban abliefern, könnten sie nicht bestehen und somit nichts abliefern. Laut Mansfield ist der Satz selten höher als 2,5 Prozent.
Frauen sind Teil des Drogenhandels, sagt die afghanische-amerikanische Autorin Fariba Nawa. Jahrelang recherchierte sie für ihr Buch «Opium Nation». Sie lebt in der Türkei und erzählt am Telefon von Todesdrohungen, die Drogenbarone gegen sie ausgesprochen haben. Öffentlich machte sie, was verborgen bleiben sollte: die Rolle der Frauen. Zwar verbannten die Taliban sie ins Haus. Gegen ihre Mitarbeit in der Drogenproduktion sperren sie sich jedoch nicht. Als Erntehelferinnen ritzen Frauen neben Männern die unreifen Samenkapseln von Mohnpflanzen, damit sie den Milchsaft absondern, der sich an der Luft rotbraun verfärbt, an den Fingern klebt und bitterscharf riecht: Opium in Rohform. Hinter Mauern verarbeiten Frauen den Saft zu Heroin, später wirken sie als Schmugglerinnen, «weil sie unter ihren Burkas unauffällig und vermeintlich unantastbar sind», so Nawa.
Offen legt sie eine schlimme Wahrheit: Mädchen sind im Zuge des blühenden Geschäfts mit Drogen zu einem Zahlungsmittel geworden. Um Schulden zu tilgen, geben Opium-Bauern und Heroinschmuggler schon mal ihre Töchter weg, als «Opium-Bräute», wie die Autorin sagt. Zwar sind Kinderehen mit Mädchen unter 16 Jahren nicht erlaubt. Nawa weiss jedoch von vielen von Drogenhändlern verkauften Minderjährigen.
Vom Hindukusch gelangt die Ware über drei Handelswege auf die Strassen westlicher Städte: Die wichtigste ist die Balkanroute. Sie führt von Afghanistan nach Iran, in die Türkei, über die Ägäis und den Balkan nach Zentral- und Westeuropa. Entlang der Nordroute werden via Zentralasien russische Süchtige beliefert, während die Drogen im Süden auf mehreren Routen geschmuggelt werden. Über Pakistan oder Iran gelangen sie zum Beispiel nach Indien oder Afrika.
Die Besetzung Afghanistans durch die USA hätte diesen Handel unterbinden sollen. Doch Amerika hat den Krieg gegen die Drogen verloren. Afghanische Mohnpflanzer erzielten 2017 mit 9000 Tonnen Opium eine Rekordernte, nahezu doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Kaum hatte die Uno den Rekord bekanntgegeben, stiegen amerikanische Bomber in den afghanischen Himmel und griffen Laboratorien an. Unter dem Codenamen «Iron Tempest» versuchten die US-Streitkräfte, das Taliban-Kartell zurückzubinden. In der Analyse «Bombing Heroin Labs in Afghanistan» zeichnet Analyst Mansfield diesen Feldzug für die London School of Economics nach. In der ersten Nacht, am 19. November 2017, zerstörten US-Piloten 10 Gebäude, in denen die Taliban angeblich Drogen herstellten. Die Amerikaner veröffentlichten Videos der Angriffe und feierten sie als Erfolg.
Doch «Iron Tempest» hatte nur geringe Auswirkungen, wie Mansfield zeigt. Zwar schrumpfte die Anbaufläche im Folgejahr um 20 Prozent. Das ist aber eher der Dürre als amerikanischen Bomben zuzuschreiben. Bereits 2019 konnten die afghanischen Bauern ihre Produktion wieder steigern.
Wie geht es nun weiter? Es gibt unterschiedliche Einschätzungen. «Drogen zählen zu den Haupteinnahmequellen der Taliban, daran dürfte sich nichts ändern», sagt Autorin Fariba Nawa. Sie hält es für möglich, dass die Taliban den Anbau innerhalb Afghanistans legalisieren. «Sie können das Geschäft weiter professionalisieren und alles kontrollieren.»
Anders sieht es die Afghanistan-Expertin vom Institute of Strategic Studies in Islamabad, Pakistan, Amina Khan. «Drogenhandel ist im Kern unislamisch.» Zwar hätten die Taliban wie die afghanische Regierung in den letzten Jahren von den Drogen profitiert. Die neue Generation an der Macht wolle sich nicht mehr vom Rest der Welt isolieren. Stattdessen würden sie versuchen, langfristig andere Einnahmequellen zu erschliessen. Khan versucht zu glauben, was ein Taliban-Sprecher diese Woche vor Medien sagte und weltweit Zweifel erntete: «Afghanistan wird nicht länger ein Land sein, in dem Opium angebaut wird.»
Wie sich das Drogengeschäft entwickelt, hänge vom Konsum des Westens ab und von der wirtschaftlichen Entwicklung Afghanistans, sagt Mansfield. Derzeit sei dasAngebot weltweit sehr gross, die Nachfrage nach illegalen Opiaten ist eher rückläufig, jene nach Meth steigt. «Sollte die afghanische Wirtschaft zusammenbrechen, dürfte sich die Drogenproduktion erhöhen», glaubt Mansfield. Die Taliban würden kaum mehr versuchen, den Drogenanbau zu unterbinden. Das habe sie vor 21 Jahren geschwächt.
Das Kabul–Kartell weiss mittlerweile sehr wohl: Das Geschäft mit dem Rausch macht die Taliban reich und somit mächtig.