Wie stark der Regenbogen strahlt, zeigt sich 2022 in Katar

Das Ideal vom unpolitischen Sport gerät in Schieflage. Doch ob die Fussballer ihre Zeichen für Toleranz ernst meinen, müssen sie an der WM am Persischen Golf beweisen. Dort wird solcher Mut etwas kosten.

Von Peter Hossli (Text) und Cecilie Johnsen on Unsplash (Foto)

Ein Held ist Manuel Neuer deswegen nicht. Der Kapitän der deutschen Elf trägt an der Fussball-EM eine Armbinde in den Regenbogenfarben. Es ist ein – höchst willkommenes – Signal für Vielfalt und selbstbestimmte sexuelle Orientierung. Weltkonzerne ahmen den Welttorhüter nach und färben ihre Twitter-Logos im Regenbogen. Endlich zeige der sonst eher farblose Goalie Haltung, jubelt die «Süddeutsche Zeitung». Beachtlich sei die Courage des Sportlers, hallt es von überall her. Für einmal verhindere er nicht nur Tore, sondern punkte politisch: eine bunte Binde als klare Kante gegen ein neues homophobes Gesetz, das in Ungarn in Kraft tritt.

Das tönt schön, doch Neuers Mut ist gratis. Niemand mit Verstand und Herz kann Diskriminierung gutheissen. Und das bisschen Mut lenkt ab von unangenehmen Wahrheiten. Neuer ist verbandelt mit einem Land, das genau die Rechte missachtet, die er verteidigt. Das Schwule auspeitschen lässt, sie wegen ihrer sexuellen Orientierung bis zu drei Jahre einsperrt, ja sogar die Todesstrafe vorsieht. Das Land ist Katar, ein ultrareiches Erdgas-Emirat am Persischen Golf – und ein Partner Bayern Münchens, des Fussballklubs, für den Neuer seit zehn Jahren arbeitet.

Seit ebenso vielen Jahren halten die Bayern sich im Wintertraining in Katar fit. Qatar Airways ist ihr Sponsor, zuvor war es der Flughafen der katarischen Hauptstadt Doha. Beide Konzerne gehören katarischen Staatsfonds, die der Emir von Katar kontrolliert. Dessen Einfluss reicht weit über die heimische Wirtschaft hinaus mit Investitionen von 400 Milliarden Dollar in europäische Unternehmen. Deshalb fällt es vielen so schwer, bei Katar Haltung zu zeigen. Die Qatar Investment Authority besitzt etwa ein beachtliches Aktienpaket von Volkswagen, Hauptsponsor des deutschen Nationalteams und einer der vielen Konzerne, die diese Woche in Regenbogenfarben leuchteten.

Als Katar 2010 den Zuspruch für das Turnier erhielt, sagte der damalige Fifa-Präsident Sepp Blatter flapsig, Schwule und Lesben sollten «bei der WM jegliche sexuellen Aktivitäten unterlassen». Der Walliser entschuldigte sich, blieb aber noch jahrelang an der Spitze des Weltfussballs. Heute wäre das undenkbar. Die Dachverbände des Sports – ob die Uefa, die Fifa oder das olympische Komitee – können sich nicht mehr auf ihre Neutralität berufen und zu Politischem immer nur schweigen. Der Regenbogen hat einen Damm gebrochen – und den Sportfunktionären die Hoheit über die Botschaften rund um die EM genommen. Das Verfahren gegen Neuers Binde mussten sie rasch wieder einstellen. Zwar verboten sie, das Münchner Stadion in den Regenbogenfarben zu beleuchten, beugten sich aber dem Druck einer liberalen Öffentlichkeit und bezogen Stellung für Toleranz – mitsamt Regenbogen.

Aktivisten kennen die neue Verletzlichkeit der alten Verbände. Sie sind global vernetzt und setzen Social Media wirkungsvoll ein. Auf jeden Fehltritt folgen sie umgehend mit einem Shitstorm. Ihnen kann wenig passieren. In Kürze sammelten sie das Bussgeld für den Regenbogenflitzer von München. Und sie wissen die Wirtschaft auf ihrer Seite.

Es wäre wünschenswert, beim Sport ginge es einzig darum, wer am schnellsten läuft und die meisten Tore schiesst. Von jeher aber nutzen Politiker die Ausstrahlung internationaler Wettkämpfe. Wie 1936 in Berlin, 2008 in Peking, 2014 in Sotschi. Kanzlerin Angela Merkel besuchte jeweils von Fotografen begleitet die Kabinen der Nationalmannschaft. Argentiniens Junta schüchterte an der WM 1978 Mannschaften ein, damit ihr Team den Titel holte. Die USA und die Sowjetunion boykottierten wechselseitig die Olympischen Spiele 1980 in Moskau und vier Jahre später in Los Angeles.

Jetzt gibt es Rufe nach einem Boykott der WM in Katar. Wegen des geballten Aktivismus der Kritiker dürfte das Turnier zur Zerreissprobe werden. Fussballer müssen am Golf beweisen, wie viel ihnen ihr Mut wert ist. Kann Neuer ohne Gesichtsverlust in Stadien spielen, bei deren Bau Tausende von Gastarbeitern starben? Was geschieht, wenn er auf die Regenbogen-Binde verzichtet, in einem Land, wo einst ein schwuler Amerikaner 90 Peitschenhiebe erhielt? Verliert er den Zuspruch der Fans? Und wenn er sie trägt? Verliert er Millionen an Sponsorengelder?

Andere Fussballer stellen sich wohl ähnliche Fragen. Die Credit Suisse ist Sponsor der Schweizer Elf. Der grösste Aktionär der Bank? Qatar Holding. Der Emir von Katar besitzt den französischen Spitzenklub Paris St. Germain – mit Stars aus sieben Nationalmannschaften, darunter Italien, Frankreich und Argentinien. Werden sie sich gegen die Homophobie ihres Besitzers stellen und die eigene Karriere riskieren? Höchstwahrscheinlich wird es keiner von ihnen tun.

Obwohl sie Vorbilder haben. «Kein Vietcong nannte mich jemals Nigger», sagte der Schwergewichtsweltmeister Muhammad Ali 1967 und verweigerte den Kriegsdienst in Vietnam. Er verlor zeitweilig die Boxlizenz. Der schwarze Sprinter Tommie Smith reckte 1968 an den Olympischen Spielen in Mexiko-Stadt mit der Goldmedaille am Hals die Faust zum Himmel – ein Zeichen gegen Rassenhass. Er verlor einen Millionenvertrag als Football-Spieler. Der begnadete Quarterback Colin Kaepernick hat seit 2017 kein einziges Profispiel absolviert – wegen seiner öffentlichen Proteste gegen Rassismus in Amerika.

Als Athleten erbrachten alle drei das grösstmögliche Opfer. Das ist heldenhaft.