Interview: Peter Hossli und Michael Furger
Barbara König, 66, ist emeritierte Professorin für Zoologie und im Speziellen für Verhaltensbiologie an der Universität Zürich. Jan Fehr, 48, ist Infektiologe und Departementsleiter Public Health an der Universität Zürich. Dazu gehört das Referenzimpfzentrum des Kantons Zürich am Hirschengraben in der Stadt Zürich.
Frau König, wir führen das Interview zu zweit. Einer von uns ist wenige Jahre älter und hat nächste Woche einen Impftermin. Der andere hat keinen. Muss er sich schlecht fühlen, dass er neidisch ist?
König: Nein, Neid ist ein Gefühl, das sich über die Evolution entwickelt hat. Wir beobachten Angst, Freude und Neid auch im Tierreich. Sie werden durch bestimmte Situationen ausgelöst und erlauben es, das Verhalten so anzupassen, dass man das Bestmögliche für sich herausholt. Es ist aus evolutionsbiologischer Sicht verständlich, dass der derzeit schwierige Zugang zu einem begrenzten Gut Neid auslöst.
Als am Mittwoch bekannt wurde, dass die über Fünfzigjährigen in Zürich einen Termin buchen können, hat sich der Ältere von uns zuerst einen Termin gesichert. Dann hat er die Familie informiert und erst dann seine Freunde. Ist dieses selbstbezogene Verhalten normal?
König: Der Redaktor hat sich genauso verhalten, wie sich Hausmäuse oder Ameisen verhalten würden. Sie alle sichern zuerst ihr eigenes Überleben, ihre Gesundheit. Das bedeutet nicht, dass man andere ausschliesst. In der Eltern-Kind-Beziehung kommen sogar die Kinder zuerst. Dass die Familie einen besonderen Stellenwert hat, kann man evolutionsbiologisch erklären. Mit Verwandten teilt man abstammungsidentisch genetische Anlagen. Fördert man das Wohlergehen der Familie, fördert man eigenen evolutiven Erfolg.
Fehr: Ich beobachte bei uns im Zentrum für Reisemedizin ein Verhalten, das über das von Ameisen und Mäuse hinausgeht. In normalen Zeiten haben wir am Abend bis zu 160 Beratungen. Die Menschen warten geduldig bis zu zwei Stunden und lassen älteren Personen den Vortritt oder jemandem, der es eilig hat. Es gibt Solidarität. Wir sind nicht nur biologische, sondern auch soziale Wesen.
Wie reagieren Menschen, Herr Fehr, wenn sie endlich geimpft werden?
Fehr: Sie erleben Glücksgefühle, vergleichbar mit einer Geburt oder einer Hochzeit. Vor allem ältere Menschen haben sich zum Teil ein halbes Jahr in eine Isolation begeben, aus Angst, sich oder andere anzustecken. Die Impfung ist für sie eine Erlösung. Viele werden von ihren Kindern begleitet. Die dürfen wegen der Schutzmassnahmen nicht ins Impfzentrum und warten, bis ihre Eltern mit Freudentränen herauskommen. Es sind sehr rührende Szenen.
Warum glauben Sie, Frau König, löst so eine Impfung bei den Menschen Glücksgefühle aus?
König: Wir wissen, dass Tiere Zustände anstreben, die ihrer Gesundheit förderlich sind. Sie isolieren sich selber, wenn sie krank sind, oder sie reduzieren den Kontakt mit kranken Artgenossen. Fledermäuse wählen Tagesquartiere mit geringer Parasitenlast. Das kann ein positives Gefühl auslösen.
Für dieses Gefühl lassen sich Menschen einiges einfallen, vor allem diejenigen, die noch nicht an der Reihe sind. Herr Fehr, welche Strategien von Impfdränglern haben Sie erlebt?
Fehr: Bei vielen, die drängeln, ist Verzweiflung dabei. Natürlich gibt es diejenigen, die im Mai in die Ferien und eine Impfung wollen. Aber ich möchte zuerst über die anderen sprechen. Vor allem im Januar gab es Szenen, die mich bewegt haben. Ältere Leute haben handgeschriebene Brief verfasst und beim Haupteingang des Impfzentrums unter der Türe hindurch geschoben. Darin haben sie freundlich gebeten, sie bitte nicht zu vergessen, falls eine Dosis übrig bleibt.
Aber es gibt eben auch die zweite Kategorie, die zum Beispiel Vorerkrankung vortäuscht.
Fehr: Die meisten Menschen verstehen, wer am meisten gefährdet ist. Wenn man ein bisschen Gemeinsinn hat und nicht ganz narzisstisch aufgewachsen ist, dann schafft man das. Es gibt aber jene, die sich als Mittelpunkt der Welt sehen und keinen Schritt zurücktreten können. Sie entwickeln Strategien, wie sie an eine Impfung herankommen.
Wie zum Beispiel?
Fehr: Zum Teil haben sie milde Vorerkrankungen, etwa leichte Lungenerkrankungen. Sie monieren dann, an einer schweren Form zu leiden, die für eine frühe Impfung qualifizieren würde. Wir haben schon Mails gefunden, auf denen ein Arzt seinem Patienten eine Anleitung aufgeschrieben hat. Das wird aufhören, sobald genügend Impfstoff da ist.
Wie reagieren die Leute, wenn sie auffliegen?
Fehr: Es gibt Menschen, die geben sich geschlagen und gehen unverrichteter Dinge wieder raus. Und dann gibt es diejenigen, mit denen wir lange diskutieren, bis sie einsehen, dass es kein Durchkommen gibt.
Ist Beschiss normales Verhalten, Frau König?
König: Menschen sind grundsätzlich sozial. Wir sind bereit, anderen zu helfen. Aber diese Bereitschaft kann in Konflikt geraten mit den Eigeninteressen. Je bedrohlicher eine Situation ist, desto weniger hilfsbereit sind wir. Zu versuchen, bestimmte Situationen zu den eigenen Gunsten auszunutzen, ist Teil des Sozialverhaltens. Es wäre aus evolutionsbiologischer Sicht falsch, zu sagen, solches Verhalten wäre nicht normal.
Hat denn die Pandemie das Negative und Egoistische in uns herausgeholt?
König: Wir verhalten uns hier wie in anderen Situationen. Die Pandemie hat uns nicht zu Egoisten gemacht, sondern wir sind in gewissem Sinne Egoisten. Wir stellen Eigeninteressen und die Interessen von Verwandten an erste Stelle. Und das ist nicht schlecht und nicht falsch. Die Prädisposition zu eigennützigem Verhalten hat sich evolutionsbiologisch über Millionen Jahre bewährt. Der Prozess hat gleichzeitig zu hoch entwickeltem Sozialverhalten und Kooperation geführt.
Fehr: Die Pandemie ist ein Brennglas. Sie macht alle jene Dinge deutlich, die wir schon vorher kannten. Aber es gehört zum Erwachsenwerden, dass wir Sozialkompetenz erlangen und verstehen, dass wir nur als Gesellschaft überleben. Das macht den Menschen als Sozialwesen aus.
Viele haben erkannt, dass man über Kantonsgrenzen hinaus impfen kann. 50-jährige Aargauer haben diese Woche Termine in Zürich gebucht. Bricht jetzt das Chaos aus?
Fehr: Ich hoffe nicht. Aber sind die Kantonsgrenzen überhaupt sinnvoll? Ich finde nicht. Ich schicke in Zürich doch nicht einen 85-Jährigen aus dem Kanton St. Gallen nach Hause, der vom Hausarzt bei uns angemeldet wurde. Wir brauchen Augenmass, der Föderalismus kommt uns da nicht zugute.
Wäre es sinnvoller, jetzt die Jungen zu impfen?
Fehr: In unserer Wertehaltung hat das Verhindern von Krankheit und Tod einen hohen Stellenwert. Das Alter ist ein massgeblicher Risikofaktor für einen schweren Covid-Verlauf. Entsprechend ist es richtig, sich zuerst auf die Bevölkerungsgruppe zu konzentrieren, die besonders gefährdet ist.
Und die ist jetzt grösstenteils geimpft.
Fehr: Dann ist das nächste Ziel, eine gewisse Herdenimmunität zu erreichen. Da kann es sinnvoll sein, jetzt die Jungen zu impfen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass im Herbst die Anzahl der Fälle wahrscheinlich wieder zunehmen wird. Und dann sollten wir wieder jene Menschen schützen, die das höchste Risiko für eine schwere Erkrankung haben, und das sind die älteren.
Wieso werden die Fälle im Herbst wieder zunehmen? Wegen Mutationen?
Fehr: Mutationen mögen eine Rolle spielen. Aber wichtiger sind Wellenbewegungen der Pandemie. Zudem schwächt sich die Immunantwort mit der Zeit ab. Die Zahl der Antikörper geht ein bisschen zurück.
Erwarten Sie, dass wir die Impfung auffrischen werden müssen?
Fehr: Davon gehe ich aus. Wir wissen, dass zwei Wochen nach der zweiten Impfung die Immunantwort am stärksten ist, danach nimmt sie ab. Zudem ist bei älteren Menschen oder solchen mit sonst schlechterer Immunabwehr die Antwort weniger gut. Bei ihnen wird man wohl nachimpfen müssen. Ob und wie regelmässig künftig geimpft werden muss, weiss ich noch nicht. Aber es ist wahrscheinlich noch die eine oder andere Auffrischimpfung nötig.
Es gibt global eine Ungleichheit bei der Verteilung des Impfstoffs. Ist in der Schweiz das Bewusstsein vorhanden, dass die Pandemie erst zu Ende ist, wenn die ganze Welt geimpft ist?
Fehr: Leider nicht. Wir betreiben oft eine Nabelschau und sind zu sehr mit uns beschäftigt. Es fehlt uns in unserer privilegierten Situation häufig der Bezug zur globalen Situation. Ein bisschen Demut und Bescheidenheit wäre vielleicht nicht fehl am Platz. Stattdessen blicken wir auf die Hitliste und sehen die Schweiz irgendwo auf Platz 15 bei den Impfungen. Dann sind wir enttäuscht und fragen uns, warum wir nicht unter den ersten 10 sind. Aber was ist eigentlich mit den anderen 180 Ländern los?
Warum verdrängen wir das globale Leid?
König: Wir sollten akzeptieren, dass wir zu eigennützigem Verhalten neigen. Die Verhaltensforschung hat Möglichkeiten gezeigt, wie in Konfliktsituationen dennoch Kooperation erreicht werden kann.
Fehr: Aus Sicht der globalen Gesundheit greift dieses Argument zu kurz. Heute ist alles vernetzt. Was woanders geschieht, betrifft uns auch. Darum ist es nicht nur altruistisch, wenn wir anderen auf der Welt helfen.
Was erwarten Sie für die nächsten Wochen?
Fehr: Wenn die Lieferungen wie angekündigt ankommen, wird sich die Situation entspannen. Man darf sagen, es ist sehr viel gut gelaufen. Der Bundesrat hat auf die richtigen Impfstoffe gesetzt. Einst gab es 200 Kandidaten, wir haben die besten. Zudem ist die Entwicklung eines Impfstoffs gegen Covid in so kurzer Zeit eine wahnsinnige Leistung.
Was haben Sie schon verbessert?
Fehr: Mit einer speziellen Aufziehtechnik schaffen wir es, sieben statt wie bisher sechs Dosen aus jedem Fläschchen herauszuholen. Dazu wird mit einem Luftpolster in der Spritze gearbeitet, so dass kein Totraumvolumen in Konus oder Nadel zurückbleibt und kein Tropfen verschenkt wird. Man geht ans Limit, um möglichst viele zu impfen.
Was können alle tun, um mehr herauszuholen?
Fehr: Wir sind mehr als Mäuse und Ameisen, wir können global denken und handeln sowie unseren Horizont erweitern. Dazu gehört auch Verzicht. Vielleicht lohnt es sich, dass wir uns mit der Impfung noch etwas gedulden, halt etwas später in die Ferien fahren oder ins Engadin, statt ins Ausland reisen. Dafür erhält ein anderes Land, wo die Pandemie wütet, schneller rettenden Impfstoff.