Alain Berset – auf einem Auge blind?

Der Knatsch um Lonza zeigt: Der Gesundheitsminister hatte trotz Pandemie wenig Interesse, mit der Pharmabranche zu reden.

Von Peter Hossli und Birgit Voigt

Das Gespräch dauerte bloss wenige Minuten. Telefonisch informierte die «NZZ am Sonntag» vorletzten Samstag den Sprecher von Bundesrat Alain Berset über den Inhalt eines Interviews mit Lonza-Präsident Albert Baehny. Die Redaktion bat um eine Stellungnahme. Im Interview widerspreche Baehny dem Gesundheitsminister.

Kurz darauf meldete sich der Lonza-Präsident bei der Redaktion und erklärte, Bersets Sprecher habe ihn angerufen und ihm gesagt, Protokolle würden seine Aussagen nicht stützen. Hatte hier ein Bundesrat indirekt versucht, Druck auf einen Manager auszuüben?

Klären lässt sich das derzeit nicht. Die Anekdote aber veranschaulicht im Kleinen ein grosses Problem, das es mitten in der Pandemie nicht geben dürfte – das etliche Personen aus der Pharmabranche aber benennen: Berset und seine Entourage bekunden Mühe, einen Draht zur privaten Wirtschaft zu finden und zu erhalten. Da schimmert das Wesen eines französischen Staatschefs durch. Einer, der über allem und allen stehen will.

Dabei ist die schweizerische Tradition eine andere, eine demütigere. Brennt es, reicht oft ein Telefon von Bern an den Paradeplatz, vom Rheinknie nach Bern, vom Büro einer Bundesrätin ins Büro eines Spitzenmanagers. Rasch wird dann gemeinsam ein Brand gelöscht.

Mitten in der ersten Welle bot Baehny eine Art Feuerlöscher an. Er legte am 1. Mai 2020 dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) die Option auf den Tisch, der Bund könnte sich mit einer Investition von 60 Millionen Franken in Visp an einer Fertigungslinie für den Covid-19-Impfstoff von Moderna beteiligen. Der «Tages-Anzeiger» machte das publik. Berset dementierte. Baehny widersprach dem Dementi in der «NZZ am Sonntag» und ergänzte, er habe dem BAG gesagt, der Bund könnte sich wohl 100 Millionen Dosen sichern. Zwar seien Gespräche mit Moderna nötig. Aber das Startup sei auf der Suche nach Kapital. Nach der Sitzung im Mai 2020 gab es während Monaten keinerlei Kontakte mehr zwischen Baehny und Berset oder dem BAG.

Welsch – und doch ganz anders
Funkstille, statt gemeinsam der Krise zu trotzen. Zwei Welsche schwiegen sich an. Der eine ist Waadtländer, Biologe, erfolgreich in der Privatwirtschaft tätig. Der andere, aus Freiburg, studierte Politikwissenschaften, arbeitete nur im Sold des Staats. Es prallten zwei Welten aufeinander, zwei zentnerschwere Egos, heisst es.

Die Beziehung begann mit einem vielversprechenden Brief: Im April 2020 schrieb ­Baehny an die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga und an Bundesrat Berset. Baehny erläuterte die Partnerschaft zwischen Moderna und Lonza und erklärte, «dass es für die Schweiz eine Möglichkeit gibt, bei den Covid-19-Impfstoffen eine führende Rolle zu spielen».

Eine Information, auf die jeder gewiefte Krisenmanager in einer Pandemie hätte aufspringen müssen. Eine leitende Person bei Novartis sagt es so: «Macht der Chef eines Konzerns wie Lonza in einem Spitzengespräch die Andeutung, ein Deal sei möglich, erwarte ich, dass ein Bundesrat ein Team dazu beordert, die Idee im Detail zu prüfen.»

Der 48-jährige Berset aber gewährte Baehny bloss ein dreiminütiges Telefongespräch. Es ist wichtig, die Kürze des Austausches zu betonen, da sie aus Sicht der Branche für Geringschätzung steht, für das verknorzte Verhältnis zwischen dem Schweizer Gesundheitsminister und der Industrie, die für die Gesundheit der Schweizerinnen und Schweizer Produkte herstellt.

Zwischen Berset und Big Pharma gibt es kaum enge, vertrauliche Kontakte. Das hat wohl auch damit zu tun, dass der Gesundheitsminister nur schon von Amtes wegen kein natürlicher Freund dieser Industrie ist. Man streitet sich regelmässig um Medikamentenpreise oder Therapiekosten. Dennoch ist es ein Thema in der Branche, dass der Bundesrat in der Pandemie weder zu Roche-Chef Severin Schwan noch zu Novartis-Chef Vasant Narasimhan Kontakt aufnahm. Nie habe Berset versucht, mit den Topmanagern gezielt Massnahmen einzuleiten, um die Krise zu mildern – obwohl sie signalisiert hatten, helfen zu wollen. «Es ist traurig, dass die Regierung nicht mit uns reden wollte», sagt ein Pharma-Manager. «Es hätte sicher Momente gegeben, in denen ein runder Tisch Dinge beschleunigt hätte.»

Berset habe «in letzter Zeit» telefonischen Austausch mit den Spitzen der Pharmabranche gehabt, sagt sein Sprecher Peter Lauener. Regelmässig besuche er Produktionsstätten. Alle Bundesräte und die Behörden würden sich mit der Wirtschaft austauschen. «Dieser Austausch ist wichtig und funktioniert gut.»

Zwar arbeitete eine bundesrätliche Task-Force während der ersten Welle mit Vertretern der Pharmaverbände gut zusammen. Doch beim BAG sah man dafür zu Beginn des Sommers 2020 keine Notwendigkeit mehr. Aus dem Umfeld von Berset ist zu hören, der SP-Magistrat fühle sich wohler mit Kulturschaffenden als mit Managern oder Unternehmern.

Es gibt Bundesräte, die handeln
Andere Bundesräte setzen in Krisen andere Prioritäten. Altbundesräte wie Adolf Ogi und Pascal Couchepin erzählen, sie hätten oft mit der Privatwirtschaft gesprochen, um Probleme zu lösen (siehe Artikel rechts). Dieser Drang, eine Chance wahrzunehmen und schnell zu handeln, scheint Berset zu fehlen. Informell wussten andere Bundesräte zwar von Baehnys Kontaktversuchen. Aber Berset unterliess es, das Anliegen überhaupt in die Sitzung des Gesamtbundesrates zu tragen. Das Treffen Baehnys mit dem BAG am 1. Mai 2020 war ebenfalls in keiner Bundesratssitzung ein Thema. Da es kein richtiges Angebot gewesen sei, habe er es im Bundesrat nicht vorgestellt, begründete Berset. Pharma-Manager halten dies für eine Ausrede eines Magistraten, der sich zu wenig für ihre Branche interessiert. «Es war sicher kein pfannenfertiges Angebot und damit kompliziert», sagt der ehemalige Roche-Chefjurist Gottlieb Keller. Doch rechtliche Hindernisse hätte man bestimmt beseitigen können. «Vermutlich war Herrn Berset das finanzielle Risiko zu hoch.» Keller, der Berset kennt, hat den Eindruck, der Bundesrat betrachte Unternehmer eher als Notwendigkeit denn als mögliche Partner.

Andere drücken es plakativer aus. Das BAG sei vorwiegend linksideologisch geführt. Fest steht: An der Spitze hat eine Politologin eben einen Juristen ersetzt, eine Theologin leitet das Krisenmanagement während der Pandemie, eine Diplomatin ist verantwortlich für die Beschaffung der Impfstoffe.

Mit diesem Personal entfremden sich Bundesämter und multinationale Konzerne zu parallelen Welten. Vor Jahren schon sprach der PR-Berater Klaus Stöhlker von «einer A- und der B-Schweiz». Von der «internatio­nalen Schweiz, die weltweit geschäftet und zur eingeigelten Schweiz kaum Berührungspunkte hat». Es sind Schweizer Konzerne mit deutschen, indischen oder niederländischen Chefs. Diese kennen die Bundesräte zwar, doch man bleibt gegenseitig auf Distanz.

Berset scheint Kontakte oft erst dann zu suchen, wenn er gute Nachrichten verkünden will. Wie Anfang Jahr im Wallis. Albert ­Baehny habe die Kantonsregierung auf den 11. Januar 2021 nach Visp geladen, um das Lonza-Werk zu besichtigen, erzählt der Walliser Staatsratspräsident Christophe Darbellay. Berset vernahm von diesem Auftritt. «Plötzlich kam ein Anruf aus dem Sekretariat von Bundesrat Alain Berset mit der Botschaft, der Gesundheitsminister wolle Lonza besuchen», sagt Darbellay, der keine Sekunde zögerte, Berset Platz zu machen. Eilig lud er fast alle anderen Staatsräte aus. Berset hatte das Werk für sich.

Just am Tag danach, am 12. Januar, erteilte Swissmedic dem in Visp fabrizierten Impfstoff von Moderna die Zulassung. Berset trat gleichentags in allen Zeitungen auf – in der Fabrik, die den Impfstoff herstellt.

Zufall? Vermutlich, sagt das Heilmittel­institut, das auf seine Unabhängigkeit pocht. Gleichzeitig bestätigt Swissmedic, dass das Eidgenössische Departement des Innern über bevorstehende Zulassungen informiert werde.

Vor laufenden Kameras hat sich die Lage mittlerweile etwas entspannt. Berset liess diesen Mittwoch verlauten, er sei zu Gesprächen bereit. Und Albert Baehny gestand im Schweizer Fernsehen demütig, er habe sich wohl nicht klar genug ausgedrückt. Die Türe für den Bund stehe in Visp weiterhin offen.

Niemand soll das Gesicht verlieren, beide Seiten versuchen sich zu arrangieren. Richtig gut kommt in dieser Sache aber keiner weg.

Eine Person, die mit Berset und Baehny zu tun hatte, sagt es treffend: «Keiner der beiden eignet sich für die Rolle des Helden.»