Von Peter Hossli und Birgit Voigt (Text) und Hakan Nural on Unsplash
Am 27. März 2020 um 17 Uhr 34 trifft am Universitätsspital Zürich eine E-Mail ein. Sie kommt aus dem Bundesamt für Gesundheit (BAG). Empfänger ist der Immunologe Steve Pascolo. Ob er helfen könne, einen Überblick über Forschung und Entwicklung zu Covid-19-Impfstoffen zu geben, fragt der Absender. «Gerne», antwortet Pascolo um 19 Uhr 02. Es kommt bald darauf zu Telefongesprächen, und was der Immunologe dabei erklärt, das klingt hoffnungsvoll.
Ende 2020 werde es mehrere sichere mRNA-Impfstoffe geben. «Die mRNA-Vakzine sind schnell entwickelt, sie lassen sich in rauen Mengen herstellen.» Er vergleicht den Prozess mit einem Fotokopierer. «Hat man genügend Toner und Papier, kann man beliebig viele Bücher kopieren. Hat man das Material, kann man mRNA-Impfstoffe herstellen.»
Pascolo weiss, wovon er spricht. Er half in den letzten 22 Jahren mit, die mRNA-Technologie zu entwickeln. Botenstoffe werden dabei in den Organismus eingeführt, die den Körper anregen, etwas zu tun, beispielsweise Antikörper gegen das Coronavirus zu bilden.
Doch seine Begeisterung überträgt sich nicht auf das BAG. Die Technologie ist neu, ungeprüft, marktreife mRNA-Impfstoffe gibt es zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen. «Bis im Herbst waren wir nicht sicher, ob wir richtig investiert hatten», sagt die BAG-Vizedirektorin Nora Kronig heute. «Wir mussten einfach noch wissen, ob diese Impfstofftechnologie wirksam und sicher ist.» Dieses Zögern hat gravierende Folgen.
Denn wer versucht, die Impfstoffbeschaffung der Schweiz zu ergründen, stösst auf zwei zentrale Probleme. Das erste ist, was später ein Mitglied der Impfstoff-Arbeitsgruppe als «Mangel an Vorstellungskraft» bezeichnen wird. Die Verantwortlichen im BAG zweifelten lange, dass die mRNA-Technologie einen sicheren Impfstoff hervorbringe. Sie irrten sich, wie wir heute wissen. Die beiden wirksamsten und früh verfügbaren Vakzine sind mRNA-Produkte: von Biontech und von Moderna. Das zweite Problem war die aus der Not geborene Idee, die Schweiz könne selbst – ohne fremde Hilfe – innert weniger Monate einen Impfstoff entwickeln und herstellen.
Diese beiden Haltungen bestimmten das Denken und die Entscheidungen bis in den Spätsommer hinein. Sie führten vermutlich dazu, dass der Bund eine vielversprechende Option unbeachtet an sich vorbeiziehen liess, die ihm vielleicht den Zugriff auf 100 Millionen Dosen des Moderna-Impfstoffs ermöglicht hätte. Und sie bewirkten, dass das BAG zu lange zögerte, überhaupt Impfstoffe zu bestellen. Erst im Dezember, als die Schlussresultate der Studien von Moderna und Biontech vorlagen, kaufte der Bund unter Druck grössere Mengen ein. Dass es der Schweiz dennoch gelang, bis heute 36 Millionen Dosen zu sichern, verdankt sie einerseits dem Geschick weniger Personen. Andererseits war es schlicht grosses Glück.
Die «NZZ am Sonntag» hat die Impfstoff-Beschaffung detailliert rekonstruiert. Grundlage sind zahlreiche Gespräche mit Personen aus Verwaltung, Industrie und Forschung sowie die Sitzungsprotokolle der Impf-Arbeitsgruppe des BAG, jenes Teams, das für die Beschaffung verantwortlich ist. Herausgekommen ist ein Bild, das weder strahlend weiss noch tiefschwarz ist. Die Ausgangslage im Frühling 2020 war unklar, die Arbeit der Gruppe geprägt von der Angst, die erste Welle könnte ausser Kontrolle geraten. Der Zürcher Infektiologe Jan Fehr hat dafür ein Bild: «Seit über einem Jahr fahren wir einen steilen Slalom im dichten Nebel. Fortlaufend werden die Torstangen umgesetzt, und niemand konnte die Strecke vorab besichtigen.»
Für Fehr beginnt der Slalom im Februar 2020, in Zürich moderiert er ein Impf-Symposium. Die Pandemie breitet sich unaufhaltsam aus. In China stehen ganze Metropolen still. «Wir wollten wissen, ob sich eine der genialsten Erfindungen der Menschheit – die Vakzine gegen Kuhpocken – auf Covid übertragen lässt und rasch ein Impfstoff gegen Sars-CoV2 entwickelt werden kann», sagt Fehr. Viele bezweifeln es, weil sie wissen: Es kann bis zu 30 Jahre dauern, um eine neue wirksame Impfung zu entwickelt. Wenn jemand einen Impfschutz gegen das Coronavirus hervorbringt, dann werden ihn ausländische Hersteller liefern, ist Fehr überzeugt. Der Schweiz fehle es an der nötigen Infrastruktur.
Was im Februar 2020 die meisten Skeptiker nicht wissen: In zwei Labors gibt es bereits Impfstoff-Kandidaten. Deutsche und US-Forscher konnten das Erbgut des Coronavirus im Januar analysieren. Drei Wochen benötigen Wissenschafter der US-Firma Moderna in Cambridge bei Boston, um einen Impfstoffkandidaten zu entwickeln. Nur zwei Tage benötigten die Kollegen der Mainzer Firma Biontech dafür. Von 20 Varianten erweisen sich zwei in Tierversuchen als besonders wirksam.
Die Biontech-Forscher wenden sich mit ihren Daten ans Paul-Ehrlich-Institut im hessischen Langen, das über die Zulassung von Vakzinen in Deutschland befindet. Gesundheitsbeamte unterstützen den Plan, im Frühling mit klinischen Studien anzufangen. Noch vor Frühlingsbeginn, am 16. März 2020, impft Moderna in den USA die ersten Probanden.
Fast zeitgleich, am 19. März, trifft sich die Arbeitsgruppe «Impfstoff Covid-19» in Bern Liebefeld zu einer ersten einstündigen Sitzung. BAG-Direktor Pascal Strupler wollte mit der Arbeitsgruppe über die kurzfristige Krisenbewältigung hinausdenken und sich mit der Beschaffung von Impfstoffen befassen. Dazu gedrängt hat ihn seit Ausbruch der Krise sein Vorgänger Thomas Zeltner. Er hat Erfahrung mit Pandemien und berät die Weltgesundheitsorganisation WHO. Zeltner tritt der Gruppe bei. Vertreten ist die Armeeapotheke, und als Impfstoffexperte sitzt Ulrich Heininger am Tisch, er gehört der ständigen Impfkommission des deutschen Robert-Koch-Instituts an. Auch die Untergruppe «Impfen» der wissenschaftlichen Task-Force soll helfen, mögliche Kandidaten zu evaluieren. Eine Aufgabe, die eigentlich der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF) obliegt. Doch deren Präsident Christoph Berger geht bei der BAG-Arbeitsgruppe vorerst vergessen. Zwar heisst es in der ersten Sitzung, man müsse die EKIF an Bord holen. Bis Berger richtig hinzustösst, wird es Mai. An die Spitze des Teams beruft Strupler die 40-jährige Diplomatin Nora Kronig. Sie soll die Verbindung zur Verwaltung erleichtern.
Die Gruppe setzt sich drei Ziele: Der Bund soll die Forschung und Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen unterstützen und die Bevölkerung mit wirksamen Impfstoffen versorgen. Zudem müsse sich die Schweiz für eine globale Verteilung der Covid-Vakzine einsetzen. Am 3. April setzt der Bund einen Kostenrahmen fest. Die Gesamtausgaben der Beschaffung dürften sich «auf voraussichtlich 250 bis 300 Millionen Franken» belaufen, bei nationalen wie internationalen Einkäufen.
Leiterin Kronig erteilt die Devise, sich nichts und niemandem zu verschliessen, zumal da schon über 200 mögliche Vakzin-Projekte am Start stehen. Es gilt, nicht auf falsche zu setzen oder richtige zu verpassen. Nicht allein die Wirksamkeit soll entscheiden. Ein Hersteller muss das Serum in grossen Mengen produzieren und es sicher verteilen können.
Kann die bestehende Gruppe das leisten? Strupler und Zeltner haben Zweifel. Ihnen fehlt eine Person mit guten Beziehungen zur Pharmabranche. Zeltner fragt Andrin Oswald an. Der langjährige Chef der Novartis-Vakzinsparte kennt das Metier wie wenig andere. Im April stösst er zur Gruppe. Auch McKinsey-Berater unterstützen das Team. Deren Angebot, das unentgeltlich zu tun, lehnt das BAG ab. Man will nicht als bestechlich gelten und einigt sich auf einen tiefen Sondertarif.
Einige BAG-Mitarbeiter begegnen den externen Fachleuten mit Skepsis. Aber Pharma-Manager Oswald hat ganz andere Sorgen. Er weiss aus Erfahrung, dass ein kleines Land wie die Schweiz schnell und aggressiv versuchen muss, Impfstoffe zu bestellen, um zu den früh Belieferten zu gehören. Noch ist weitgehend unklar, wie andere Länder reagieren würden, wenn die Pandemie mit dem Lockdown nicht zu kontrollieren wäre. Zu diesem Zeitpunkt schnellt die Zahl der Ansteckungen weltweit in die Höhe. Regierungen verhängen Ausgangssperren. In Italien fahren Armeelastwagen Särge weg. Was wäre, fragen sich die Impfverantwortlichen in Bern, wenn die Infektionsraten weiter anstiegen und Länder wie die USA allfällige Impfstoffe nicht exportieren würden?
Die Angst vor der Abhängigkeit vom Ausland befeuert eine Notstrategie: einen Covid-Impfstoff «made in Switzerland». Innert sechs Monaten soll er vorliegen. Er wäre vermutlich nicht ausgereift und sollte nur an Risikogruppen verimpft werden, um sie zu schützen. So steht es in den Sitzungsprotokollen. Eine lokale Produktion im grossen Stil wäre allenfalls «in etwa 1 Jahr» möglich.
Externe Berater erhalten den Auftrag, bis Mai/Juni Grundlagen für einen Schweizer Impfstoff zu erarbeiten. Kosten für Studien und Produktion von 3 bis 4 Millionen Dosen sollen sich auf 50 bis 150 Millionen Franken belaufen. Zwei Optionen werden geprüft: eine Public Private Partnership (PPP), bei der Staat und Privatwirtschaft zusammenspannen, sowie eine rein privatwirtschaftliche Lösung.
«Es war zeitweilig stressig», sagt Nora Kronig heute. «Wir haben lange auch schweizerische Lösungen in die Evaluierungen einbezogen, weil wir möglichst breit suchen wollten.» Das kostet Zeit. Diverse Optionen werden geprüft und wieder verworfen. Etwa, ob es möglich wäre, eine Produktionsstrasse für Grippe-Impfstoffe aufzubauen, die «später zur Produktion von Covid-19-Impfstoffen übergehen könnte», heisst es in einem Sitzungsprotokoll.
Als EKIF-Präsident Christoph Berger ab Mai an den Sitzungen der Arbeitsgruppe teilnimmt, stellt er einen «lack of imagination» fest, wie er es formuliert – einen «Mangel an Vorstellungskraft». Berger ist Infektiologe am Kinderspital Zürich, seit 2015 steht er der eidgenössischen Impfkommission vor.
Er meint damit die Zweifel an der mRNA-Technologie. Noch immer hört das BAG auf Impfexperten, die auf herkömmliche Impfstoffe vertrauen: Viruspartikel, die im Körper eine Infektion vortäuschen, damit sich Antikörper bilden.
Berger ist erstaunt, dass neben der Suche nach internationalen Projekten noch immer von der Schweizer Impflösung die Rede ist, Das Projekt des Berner Immunologen Martin Bachmann geistert durch die Medien. Bachmann behauptet, Ende 2020 sei sein Serum bereit. Berger macht einen Interessenkonflikt transparent: Bachmann sei befreundet mit Mitgliedern der Untergruppe Impfen der wissenschaftlichen Task-Force, die bis dahin die Impfstoffkandidaten bewertet hat. Berger setzt damit den Schlusspunkt. «Irgendwann im Spätfrühling haben wir realisiert, dass von den Schweizer Hoffnungen nichts Handfestes kommen wird», sagt der ehemalige BAG-Direktor Zeltner heute. «Wir mussten diesen Gruppen sagen, dass ihre Ansätze für unsere Zwecke nicht funktionieren. Mit diesen Optionen haben wir viel Zeit verbraucht.»
Berger lotst seine Vorgängerin Claire-Anne Siegrist in die Gruppe. Die Professorin der Uni Genf stand der Impfkommission bis 2015 vor. Niemand könne in der Schweiz besser Impfstoffe auswählen als sie und die EKIF, sagt er.
Am 1. Mai 2020 besucht Albert Baehny das BAG. Er ist Verwaltungsratspräsident der Lonza. Das Unternehmen beabsichtigt, in Visp den Wirkstoff für den mRNA-Impfstoff von Moderna herzustellen. Mitte April hat Baehny den Bundesrat darüber informiert. Jetzt will er dem BAG die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit skizzieren. Die brisanteste Option: Der Bund könnte versuchen, für 60 Millionen Franken eine Produktionsstrasse im Wallis zu übernehmen. Sie würde 100 Millionen Dosen pro Jahr produzieren. Die Schweiz könnte 20 Millionen für sich behalten und den Rest ärmeren Ländern weitergeben. Zwar kann Baehny nicht über den Kopf von Moderna Impfverträge beschliessen, aber er glaubt: Ein solcher Deal hätte gute Chancen. Moderna ist zu diesem Zeitpunkt ein Startup. Geld ist knapp, Investitionen wären wohl willkommen. Aber der Bund scheint kein Interesse zu haben. Nach dem Treffen hört Baehny nichts mehr (siehe Interview übernächste Seite).
Als sich Bundesrat Alain Berset wenige Wochen später persönlich beim BAG über den Stand der Beschaffung und mögliche Kandidaten informiert, wird die allfällige Option, in Visp für die Schweiz Millionen von Dosen Impfstoffe herzustellen, nicht erwähnt. Das sagt eine Person, die an dieser Sitzung war.
Weltweit steigen die Todesfälle, doch in der Schweiz entspannt sich die Lage, man freut sich über die wiedergewonnene Freiheit und den Sommer. Im Parlament formiert sich Widerstand gegen «die Diktatur des Bundesrates» während der ausserordentlichen Lage. «Es gab mehr Abstimmungsbedarf», sagt Oswald. Gleichzeitig lichtet sich das Kandidatenfeld bei den Impfstoffen. «Wir hatten schon damals die Kontakte mit jenen Firmen geknüpft, die jetzt die Impfstoffe haben», hält er fest.
Oswald leitet nun das Beschaffungsteam und koordiniert die Verhandlungen. Langsam bildet sich ein Fahrplan heraus, den die Gruppe anstrebt: Wohl im Sommer 2021, frühestens im Frühling 2021 soll geimpft werden.
Berger und Siegrist insistieren, dass die Schweiz auf mehrere Technologien setzt und von jeder einen oder zwei Anbieter auswählen sollte. Klappt eine Technologie nicht, bleiben andere. Bricht ein Kandidat weg, hat es weitere. Damit, hoffen die beiden, könnte man vermeiden, der gesunden Bevölkerung die noch unerprobten mRNA- oder Vektor-Impfstoffe verabreichen zu müssen. Das Ziel war nach wie vor, für alle Menschen ohne Risikofaktoren einen herkömmlichen Impfstoff besorgen zu können. Diese von Sicherheitsdenken getriebene Idee würde die Kaufentscheide in den nächsten Monaten stark beeinflussen.
Berger ist beeindruckt von Oswalds Know-how, dessen Kontakte zur Industrie, dem tiefen Verständnis für Impfstoffe. Er fällt ihm als geschickter Unterhändler auf. «Es ist das Verdienst von Oswald, dass wir schnell vorwärtsgekommen sind», sagt Berger heute. Noch ist unklar, ob es einen, keinen oder mehrere Impfstoffe gibt. Trotzdem drückt Oswald aufs Tempo, drängt darauf, möglichst viel Impfstoff zu beschaffen, «über das Ziel hinauszuschiessen», wie eine Person erzählt. Im ersten halben Jahr 10 Millionen Dosen, dann 20 Millionen. «Man hat entweder zu viel oder zu wenig, eine Punktlandung gibt es nie», lautet Oswalds Devise. Zu viel wäre besser.
Doch Oswald setzt sich nicht durch. Knausrig ist das BAG zwar nicht. «Wir haben nie Zeit verloren oder etwas Wichtiges nicht gemacht, weil wir Geld sparen wollten», sagt Kronig. Aber es grassiert eine Angst vor Fehlern. An der Sitzung am 19. Juni ist BAG-Direktor Pascal Strupler anwesend. «Die Finanzkontrolle stellt erste Fragen zur Beschaffung, welche beantwortet werden müssen», sagt Strupler laut Protokoll. Es stehe fest, dass man nach den Phasen I und II noch nicht sagen könne, ob ein Impfstoff wirklich zugelassen werde, also nach den ersten klinischen Studien mit Menschen. «Damit steigt das Risiko einer Fehlinvestition.» Die Sorge vor Fehlentscheiden scheint stärker als eine risikobereite Haltung, die Erfolge abwerfen könnte.
Oswald favorisiert den US-Hersteller Moderna und treibt Verhandlungen voran, obwohl die Firma zu Beginn des Jahres erst ein paar hundert Angestellte zählt und eine Organisation für den Vertrieb fehlt. Doch das kleine Unternehmen hat einen Mann angeheuert, den er von seiner Zeit bei Novartis kennt und der seit 2017 bei Moderna zuständig ist für den Aufbau der Produktion. Dass Lonza den Wirkstoff in der Schweiz herstellt, bestärkt ihn darin, dass die Amerikaner es schaffen. Einfach ist es nicht, diese Zuversicht im Impfteam zu verbreiten. Die Frage, welche Risiken die neuartigen Impfstoffe bergen, besteht weiter. Daraus ergeben sich unterschiedliche Ansichten. Statt schnell und viel, plädieren andere dafür, massvoll und in Etappen zu bestellen.
Dabei liegen im Sommer vielversprechende Zwischenergebnisse vor. «Sie sind grossartig», schreibt Steve Pascolo am 27. Juli in einer E-Mail ans BAG. «Es ist klar, dass wir bis Ende des Jahres mindestens zwei validierte Impfstoffe gegen Covid-19 haben werden: den mRNA-Impfstoff von Moderna und einen oder mehrere mRNA-Impfstoffe von Biontech.» Gespritzt würden sie «wahrscheinlich Anfang nächsten Jahres oder vielleicht sogar noch vor Ende 2020». Eine Antwort erhält er nicht.
Berger trifft sich mit Forschern von Moderna. Er ist beeindruckt von den Versuchen an Kleintieren und Primaten, den ersten klinischen Studien. Moderna, erkennen auch er und Siegrist, ist von allen am weitesten. Im Juli beginnt die Biontech ihren Impfstoff in der dritten Phase an 44000 Personen zu testen. Es ist der grösste Impftest aller Zeiten. Moderna startet mit 30000 Probanden.
Das BAG und das VBS einigen sich im Juni auf ein «Memorandum of Understanding» mit Moderna. Es folgen «harzige und mühsame Diskussionen», sagt eine Person, die sie kennt, aber dem Amtsgeheimnis unterstellt ist und deshalb nicht namentlich reden kann.
Denn es kommt nicht schweizerisches, sondern US-Recht zur Anwendung. Das BAG stellt Oswald amerikanische Berater zur Seite, um den Vertrag unter Dach und Fach zu bringen. Es entbrennt ein Streit um die Haftung. Moderna will für mögliche Schäden durch den Impfstoff nicht aufkommen. Das BAG meint, die Verantwortung liege beim Hersteller. Zuletzt gibt die Schweiz in vielen Punkten nach.
Nach den Sommerferien, im August 2020, unterzeichnet Kronig mit Moderna einen Deal über die Lieferung von 4,5 Millionen Dosen. Das ist wenig. Die mRNA-Skeptiker im BAG wagen es nicht, mehr zu kaufen. Er soll für die Risikogruppe reichen. Die übrige Bevölkerung – das war noch immer die vorherrschende Meinung – würde später einen traditionell hergestellten Impfstoff erhalten. Die Bestellung bei Moderna ist dennoch ein Meilenstein: Die Schweiz hat einen Impf-Vertrag, bevor Israel mit dem anderen mRNA-Produzenten Pfizer/Biontech einig ist.
Auch ein Vertreter des Militärdepartements unterzeichnet den Vertrag, da der Einkauf der Impfstoffe über das VBS-Budget läuft. «Man hat schon ein mulmiges Gefühl und ist sich der Verantwortung bewusst, die Unterschrift unter einen solchen Vertrag zu setzen», sagt Kronig. «Es geht um viel Geld, nichts darf schiefgehen.»
Das letzte Wort zu diesem Kauf hat die Spitze des Eidgenössischen Departements des Innern, sagen zwei Personen unabhängig voneinander, das wäre Bundesrat Alain Berset.
Im Herbst schliesst das BAG weitere Verträge ab. Zuerst mit AstraZeneca – ein Vektor-Impfstoff – dann eine erste Tranche mit Pfizer/Biontech. Der Deal kommt Tage vor der Zulassung des Impfstoffes in der Schweiz zustande. Beinahe platzt er, da die Pfizer-Leute nicht an eine schnelle Zulassung durch Swissmedic glauben. Sie waren bereits daran, den versprochenen Impfstoff wieder zu einem anderen Abnehmer umzudisponieren, sagt eine Person, die es weiss. Doch Swissmedic lässt das Vakzin vor allen anderen Behörden Europas zu, am 19. Dezember 2020. Innert Tagen erhält die erste Schweizerin eine Dosis verabreicht. Am 12. Januar bekommt Moderna grünes Licht. Gelungen ist, was unmöglich schien: die Entwicklung eines wirksamen Impfstoffs in weniger als einem Jahr. Menschliche Genialität hat den hirnlosen Krankheitserreger besiegt.
Im Frühjahr 2021 bringt die Arbeitsgruppe weitere Verträge ins Trockene, gerade noch rechtzeitig, bevor die Liefermengen für 2021 ausverkauft sind. Insgesamt hat der Bund bis heute 36 Millionen Dosen geordert. Das ist ausreichend viel. Und es sind Impfstoffe von hoher Qualität. Sie kommen allerdings spät.
Doch nach der überraschend frühen Zulassung von Pfizer/Biontech sind weder Informatiklösungen, die Aufklärungskampagne noch die Kantone parat. Lieferungen verzögern sich, nicht nur in der Schweiz, sondern überall in Europa, auch dort, wo früher bestellt wurde. Der Impfstoff von AstraZeneca ist zwar gekauft, aber von Swissmedic nicht bewilligt. Sein Ruf ist nach Schlagzeilen über angebliche Nebenwirkungen angeschlagen. EKIF-Präsident Berger sagt heute, selbst wenn das Produkt zugelassen werde, lasse er es nur unter Vorbehalt einsetzen. «Ich werde ihn nur wahlweise empfehlen, das heisst, alle können AstraZeneca ablehnen und auf einen mRNA-Impfstoff warten.»
In der Bevölkerung, die sich sehnlichst ein Ende der Einschränkungen wünscht, macht sich Enttäuschung breit. Andere Länder sind schneller als die Schweiz. Doch zu welchem Preis? Chile übernimmt jeden erdenklichen Impfstoff. Die USA und Grossbritannien lassen Impfstoffe notfallmässig zu, was die Schweiz nicht tut. Israel gibt Pfizer/Biontech die Gesundheitsdaten seiner Bevölkerung für eine bevorzugte Lieferung ab. Was die Schweiz gar nicht gekonnt hätte, da hier elektronische Patientendossiers fehlen.
Nora Kronig sagt: «Ja, einige Länder sind derzeit vielleicht schneller unterwegs als wir. Aber im Vergleich zu vielen Ländern sind wir gut dran, wir haben ein gutes Portfolio und haben auf Produkte gesetzt, die sich bisher bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit durchsetzen.»
Wären wir heute schneller geimpft, wenn der Bund weniger gezögert und früher bestellt hätte? Wenn er nicht auf eine Schweizer Lösung gebaut und weniger Respekt vor Fehlern gehabt hätte?
Am Freitag hat Bundesrat Alain Berset die Impfpläne einen Monat nach hinten verschoben. Wer keiner Risikogruppe angehört, kann also nicht hoffen, vor den Sommerferien vollständig geimpft zu sein. In der Schweiz sind 9631 Menschen an Covid-19 gestorben.