Die Flucht, die keine war

Mitten in der Nacht sollen letzte Woche 200 britische Touristen aus dem Walliser Skiort Verbier geflohen sein. Nur: Die Meldung, die sich weltweit verbreitet hat, ist falsch.

Von Peter Hossli

Die Geschichte hört sich gut an. Mit Sack und Pack sollen 200 britische Feriengäste aus Verbier getürmt sein, «unbemerkt im Schutz der Dunkelheit», berichtete die «Sonntags-Zeitung» vor Wochenfrist. Ein Exodus aus der Quarantäne. Sie galt bis Silvester für Reisende aus Grossbritannien. Damit wollten die Schweizer Behörden die Ausbreitung einer Mutation des Coronavirus verlangsamen. Diese war zuerst in London aufgetreten.

Die Geschichte fesselte und ging um die Welt. Die Kanäle der SRG verbreiteten sie, die NZZ, deutsche «Tagesschau» und Deutsche Welle. Die italienische «La Repubblica» berichtete über «200 britannici in fuga da Verbier per evitare la quarantena». Britische Medien sprachen von «The Great Escape», der grossen Flucht. Eine Reverenz an den gleichnamigen Film, in dem britische Kriegsgefangene einem Nazi-Gefängnis entkommen.

Doch entkamen wirklich 200 Briten der Walliser Sperrzeit? Ist das überhaupt möglich: 200 Menschen, die unbemerkt aus Verbier fliehen? Mit Koffern, Ski und Skischuhen?

Wie wären sie abgereist? Das letzte Postauto mit Anschluss nach Genf oder Bern verlässt Verbier um 20 Uhr 17. Vielleicht haben die Ausreisser 50 Mietautos oder vier Reisecars organisiert. Ohne dass es jemand merkt? Die meist individuell reisenden Briten müssten irgendwo zusammengestanden sein, um den Auszug aus Verbier zu planen. Nur: Solche Versammlungen sind momentan verboten.

Die Faktenlage der «Sonntags-Zeitung» ist eher dünn. «Die Hälfte der 400 Betroffenen, die der Gemeinde bekannt sind, haben das Dorf in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen», steht im Indikativ. Eine Quelle zu dieser Aussage fehlt. Zu Wort kommt Jean-Marc Sandoz, damals noch Sprecher der Gemeinde Bagnes und somit von Verbier. Bemerkt hätten Hoteliers die Flucht, weil Gäste vor die Zimmer gestellte Frühstückstabletts zurückliessen, erklärte Sandoz. Noch sind aber keine Anzeigen wegen Zechprellerei bekannt.

Der Chefredaktor der «Sonntags-Zeitung», Arthur Rutishauser, hält an der Darstellung fest. Seine Journalistin berufe sich auf den Sprecher der Gemeinde. Wie beurteilt Sandoz die Aussagen eine Woche später? Das Tourismusbüro von Verbier vermittelt seine Nummer. Er nimmt den Anruf nicht entgegen, beantwortet eine Anfrage per SMS: «Ich bin nicht mehr für die Kommunikation der Gemeinde Bagnes zuständig.» Er rät, sich an den Direktor des Tourismusbüros zu wenden, und wünscht «alles Gute für 2021». Auf den Hinweis, er sei Hauptquelle der Story und könne deshalb nicht kneifen, schreibt Sandoz: «Leider habe ich nicht mehr das Recht, mich zu äussern. Es tut mir leid, dass ich nicht mehr tun kann.»

«Fake-News»

Aufschlussreicher ist das Gespräch mit Simon Wiget, Direktor von Verbier Tourisme. «Die grosse Flucht hat es nicht gegeben. Die Geschichte ist falsch», sagt er. «Die Meldung eines Hoteliers über eine Abreise wurde als Verstoss gegen die Quarantänepflicht interpretiert. Journalisten schrieben ihn zur Massenflucht hoch.» Die Zahl 200 sei erfunden.

Eine erfundene Zahl – ein happiger Vorwurf, zumal angesehene Medien in London, Barcelona und Rom sie wiederholt haben. Wiget sagt, was einem Journalistenherz weh tut. «Das sind Fake-News, die sich leider auf der ganzen Welt verbreitet haben.»

Aber Moment: Der Tourismusdirektor ist in dieser Sache parteiisch, da Verbier in Verruf geraten ist. Seine Aussage reicht nicht, um einen globalen Knüller als Ente zu disqualifizieren. Da ein überstürzter Alpabzug einem Verstoss gleichkäme, müsste die Polizei aktiv geworden sein. «Wir haben keinerlei Kenntnisse von 200 Briten, die unerlaubt Verbier verlassen haben», sagt Markus Rieder, Kommunikationschef der Walliser Kantonspolizei. Er habe keine Ahnung, woher diese Zahl stamme. «Hat jemand die Briten gezählt?», fragt Rieder. «Wir im Wallis zählen Schafe. Wenn jemand 200 Schafe hat, und am Abend sind es noch 180, dann hat der Hirte 20 Schafe verloren.»

Rieder ist wohl deshalb sarkastisch, weil er Zahlen hat, die der These einer Massenflucht widersprechen. Die Dienststelle für Gesundheitswesen führt 454 britische Personen, die im ganzen Kanton Wallis in Quarantäne mussten, nicht nur in Verbier. Von diesen gaben 231 eine Adresse im Wallis an, ein Hotel, ein Chalet, eine eigene Wohnung. Bei 150 Personen führte die Kantonspolizei Stichproben durch. Zwölf Personen waren vor der Kontrolle abgereist. Offen ist, ob die zwölf die Quarantäne gebrochen haben. «Die 138 anderen Personen, die wir kontrollierten, hielten sich an die Massnahmen», betont Rieder. «Wir gehen davon aus, dass sich der grosse Teil der nicht kontrollierten Personen korrekt verhielt.» Ganz ausschliessen will er vereinzelte Abgänge aus Verbier nicht. «Aber die offiziellen Zahlen widerlegen die Medienberichte. Eine grosse Flucht ist unwahrscheinlich.» Der einzige britische Tourist, der öffentlich mit der Flucht prahlte, logierte im Berner Oberland.

Den Plausibilitätstest besteht die These des Exodus nicht. Aus Sicht von Polizei und Tourismusdirektor gab es ihn nicht. Ist die Nachricht widerlegt? Noch fehlen Stimmen von Personen, die direkt mit britischen Reisenden zu tun haben. Marcus Bratter besitzt in Verbier drei Hotels, in denen Briten absteigen, ist Verwaltungsrat der Bergbahnen und Mitglied der Legislative der Gemeinde. «Die Geschichte ist ein Scherz», sagt er. Sicher, ein paar britische Gäste seien verschwunden. Sicher? Kennt er jemanden? Oder zumindest jemanden, der jemanden kennt? «Nein, ich kenne keinen.»

Ein Versteck unter dem Schnee?

Bratter kann sich aber vorstellen, dass der eine oder der andere Gast im Privatauto abgereist ist. In seinen Hotels hielten sich alle an die Vorschriften. «Wo hätten 200 Briten hingehen sollen?», fragt er. Tagelang gab es keine Flüge zwischen der Schweiz und England. «Vielleicht versteckten sie sich unter dem Schnee.» Er ist in Kontakt mit anderen Hoteliers in Verbier. Bisher habe sich keiner über unbezahlte Rechnungen beklagt. Ähnlich tönt es bei drei Skischulen. Eine Skilehrerin erzählt von einem Briten, der sich abgemeldet habe.

Julian Griffiths führt European Snowsport, eine Walliser Ski- und Snowboardschule. Er kenne einen Engländer, der frühzeitig abgereist sei. Dieser lebe aber in Zürich und musste nicht in Quarantäne. «Nonsens» sei die Story. Sie schade Verbier, da der Skiort wie Ischgl mit Covid-19 in Verbindung gebracht werde. Dabei hielten sich alle an die Schutzkonzepte. Jeder Skilehrer messe täglich Fieber.

Aufgebracht hat ihn die Berichterstattung der BBC. Der öffentlichrechtliche Sender zeichne das Bild von Britinnen und Briten, die wegen des Brexits durch halb Europa gejagt würden. «Französische und italienische Medien brachten die Falschmeldung absichtlich in Umlauf», sagt Griffiths. «Weil ihre Skipisten geschlossen und jene in der Schweiz offen sind.» Das ist eine verwegene Behauptung, die es zuerst zu überprüfen gilt.