Die Menschen, die wir verloren haben

Jeden Tag sterben in der Schweiz rund achtzig Menschen an Covid-19. Ihr Tod, aber auch ihr Leben verschwinden hinter den nüchternen Statistiken, die wir jeden Tag lesen. Zwölf Geschichten über ganz normale und doch besondere Menschen. Sie haben gelebt, gelacht, geliebt – und sind im Kampf gegen das Virus unterlegen

Von Peter Hossli

Henk Brink, 81

Mit 57 Jahren schickte ihn die Swissair als Linienpilot in den Ruhestand. Doch am Boden blieb Henk Brink nicht. Er erwarb eine Lizenz als Helikopterpilot – aus seiner Sicht die schwierigste Art zu fliegen, da er Füsse, Hände und Kopf gleichzeitig benutzen musste. Er beteiligte sich an einer Helikopter-Airline und flog Manager ans WEF nach Davos. In guter Erinnerung blieb ihm das Gespräch auf einem dieser Flüge mit dem Theologen Hans Küng.

Henk Brink suchte das Abenteuer. Zusammen mit einem Freund rüstete er dessen Helikopter um. Zu zweit flogen sie zehn Tage lang über die einsamen Weiten Alaskas.

Zur Welt kam er am 24. März 1939 im norddeutschen Husum, als Sohn eines Niederländers und einer Deutschen. Wegen des drohenden Krieges fürchtete sich die Mutter, das Kind in den Niederlanden zu gebären. Sie reiste zu ihren Eltern und ging nach der Geburt mit dem Baby zurück in die niederländische Stadt Zeist bei Utrecht.

Schon als Junge wollte Henk abheben. Mit 15 Jahren war er der jüngste niederländische Segelflugpilot. Später liess er sich zum Linienpiloten ausbilden und flog für die KLM. Er kam 1964 in die Schweiz und sass bis zu seiner Pensionierung im Cockpit verschiedener Swissair-Maschinen. Zuletzt steuerte er Jumbojets – als Fluglehrer, Check-Pilot und Kapitän der B-747-Flotte.

Auf einem Flug von New York nach Genf lernte er im August 1988 die Maître de Cabine Maggie Stalder kennen. Der Vater zweier erwachsener Töchter war in Scheidung, und sie hatte sich eben von ihrem Partner getrennt. Die beiden heirateten und flogen nun oft zusammen, er vorne, sie führte die Kabine. «Wir hatten 32 wunderschöne, unvergessliche Jahre zusammen», sagt sie. Das Paar reiste, spielte Tennis und Golf, kaufte sich ein Haus in Florida, wo es die letzten zwanzig Winter verbrachte. Er las Science-Fiction-Romane und wissenschaftliche Sachbücher. Am 15. März 2020 kehrten sie aus Sarasota am Golf von Mexiko in die Schweiz zurück. Vermutlich auf der Reise steckten sich beide mit dem Coronavirus an. Am 31. März musste er ins Spital, sie ging zu Hause in Quarantäne. «Wir sahen uns nie wieder. Es gab keinen Abschied», erzählt seine Frau. Am 15. April ist Henk Brink in Zürich an Covid-19 gestorben.

Maria Caduff-Liesch, 90

Ihre Mutter arbeitete als Hausangestellte in Zürich, wurde schwanger und brachte Maria am 30. November 1929 als uneheliches Kind zur Welt. Wer der Vater war, behielt sie zeitlebens für sich. Das Mädchen verbrachte die ersten drei Jahre im Waisenhaus Küsnacht und kam dann mit seiner Mutter in eine protestantische Zürcher Pfarrersfamilie. Mit ihr zogen sie nach Brig, nach Romanshorn und zurück nach Zürich. Nach Kriegsende half Maria Liesch in Brüssel als Au-pair einer Familie mit dreizehn Kindern. Der Pfarrer entschied für sie, dass sie einen «dienenden Beruf» erlernen solle. Sie wurde Säuglingskrankenschwester. Bei einem Theaterbesuch im Schauspielhaus Zürich lernte sie ihren Mann Gion Caduff kennen. Sie heirateten und zogen zwei Söhne und eine Tochter gross, dazu ein Pflegekind aus Tibet. Nach dem frühen Tod ihres Mannes ging sie auf Reisen und erfüllte sich einen Traum: Sie besuchte die Kunstgewerbeschule, begann zu malen und zu zeichnen.

61 Jahre lang lebte sie in derselben Wohnung beim Museum Rietberg in Zürich. Sie pflegte die Hausbesitzerin, die ihr zum Dank das Haus vererbte. Mit 90 zog sie in ein Pflegeheim. Dort brach sie sich ein Bein. Ein Corona-Test im Spital fiel positiv aus. Maria Caduff wurde nicht mehr operiert. Sie ist am 7. November an Covid-19 gestorben.