“Die Zeit der Stars ist in der Medizin vorbei”

Seit Monaten steht das Zürcher Universitätsspital (USZ) in der Kritik. Spitaldirektor Gregor Zünd lehnt einen Rücktritt ab. Er will keine Star-Chirurgen mehr, pocht auf fixe Löhne für seine Ärzte und mehr Macht für sich.

Interview: Peter Hossli Fotos: Gerry Nitsch

Der Luzerner Gregor Zünd, 61, studierte in Bern Medizin. Er arbeitete in Aarau, Nidwalden und Texas. 1991 kam er ans USZ. Während zweier Jahre wirkte er als Oberarzt für Herz- und Thorax-Chirurgie an der Harvard Medical School. 1996 kehrte er ans USZ zurück. 2008 wurde er Lei­ter von Forschung und Lehre. Seit 2016 ist er CEO am Universitätsspital.

Das USZ stand in den letzten Monaten stark in der Kritik. Können Sie nur Spitaldirektor bleiben, weil das Spital die Pandemie so gut meistert?
Gregor Zünd: Ihre Annahmen sind falsch. Nicht das Spital steht in der Kritik, sondern einige wenige Klinikdirektoren. Sie sind dem Spitalrat und nicht dem CEO unterstellt.

Drei Mitglieder des Spitalrats treten zurück, Sie aber bleiben. Verunmöglichen Sie damit nicht den wichtigen Neuanfang?
Der Betrieb am USZ ist gesichert. Ein Neuanfang bei der operativen Führung ist nicht nötig. Wir gewährleisten qualitativ hochste­hende Medizin für Zürichs Bevölkerung.

Der Klinikdirektor der Gynäkologie, Daniel Fink, schrieb jahrelang seinen Namen auf OP-Berichte, obwohl er bei Operationen nicht dabei war. Warum liessen Sie ihn gewähren?
Zu den laufenden Untersuchungen kann ich nicht direkt Stellung nehmen.

Die «NZZ am Sonntag» hat OP-Berichte publiziert, aus denen klar wird, dass Fink mehrere Eingriffe gleichzeitig durchführte.
Das habe ich gesehen, und ich kenne den Artikel über Herrn Fink fast auswendig. Ich sage nicht, der Artikel sei falsch. Um früher einzuschreiten, reichen aber Gerüchte nicht, es braucht Fakten. Als wir schriftliche Hinweise hatten, sind wir sofort eingeschritten.

Die Probleme bei Herrn Fink sollen schon seit zehn Jahre bekannt sein.
Das habe ich auch gehört, vielleicht haben Sie und ich diesbezüglich ja die gleiche Quelle. Fest steht: Ich habe es nicht gewusst.

Kennt ein CEO einen Missstand in seinem Un­ternehmen nicht, kann das genauso schlimm sein, wie wenn er nichts unternimmt.
Kommt etwas zu mir, gehe ich es umgehend an. Als die Vorwürfe gegen Herrn Fink auf meinem Tisch lagen, haben wir innert 48 Stunden reagiert. Ebenso in anderen Fällen.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass das USZ zuerst einmal alles abstreitet.
Das ist schlicht nicht wahr.

Erst als unsere Redaktion harte Fakten vorlegte, reagierte das Spital.
Das ist falsch. Da bin ich sehr empfindlich. Wir wischen nichts unter den Teppich. Was nicht geht: Dass jemand im Gang irgendetwas erzählt, das dann jemand nach aussen trägt, statt intern zu informieren.

Ärzte reden viel auf den Gängen. Sprechen sie danach mit Journalisten, beschimpfen sie sich gegenseitig. Warum reden in der Schweiz so viele Chirurgen schlecht übereinander?
Das hat mit Neidkultur und mit Unsicherheit zu tun. Die Medizin macht derzeit eine rasante Entwicklung durch. Was gestern noch galt, gilt heute nicht mehr. Und morgen sieht es wieder ganz anders aus.

Happig sind die Vorwürfe an die Herzchirurgie. Der vormalige Klinikdirektor soll Urkunden gefälscht, wissenschaftliche Berichte geschönt und Interessenkonflikte unterschlagen haben. Warum griffen Sie nicht früher ein?
Wir nahmen bereits 2017 Korrekturen vor. Zu den laufenden Verfahren kann ich mich nicht äussern. Die Berichte dazu werden wir in absehbarer Zeit veröffentlichen.

Ein von der Gesundheitsdirektion in Auftrag gegebener und am Freitag publizierter Bericht kritisiert, die GD habe von den Fällen am USZ erst in den Medien erfahren. Warum haben Sie Regierungsrätin Natalie Rickli nicht direkt informiert?
Die operative Spitalführung ist dem Spitalrat unterstellt. Wir informieren den Spitalrat, der Spitalrat informiert die Gesundheitsdirektion. Es ist wichtig, diese Hierarchiestufen einzuhalten.

Indem Sie die Strukturen vorschieben, entziehen Sie sich der Verantwortung. Ein Chef mit Zivilcourage nimmt das Telefon zur Hand und ruft Frau Rickli an. Sie haben ihre Nummer.
Es braucht Ordnung im System. Der Spitalrat ist verantwortlich für die Direktoren der Kliniken. Und es ist wichtig, dass wir den Spitalrat klar orientieren.

Mit Paul Vogt führt neu ein 63-jähriger Arzt die Herzchirurgie. In zwei Jahren wird er pensioniert. In so kurzer Zeit kann er die Klinik kaum auf Kurs bringen.
Wir sind froh, dass Professor Vogt uns un­terstützt. Er konnte das System rasch beruhigen. Dank ihm können wir den Leistungsauftrag weiterhin erfüllen.

Die Verpflichtung von Thierry Carrel überrascht. Es bestand lange eine Rivalität zwischen USZ und Inselspital in Bern, wo Carrel tätig war. Warum holen Sie ihn nach Zürich?
Ich habe ihn nicht geholt. Herr Vogt und Herr Carrel haben sich unterhalten und sich gefunden. Herr Vogt ist der Chef, er begrüsst es, dass Herr Carrel nach Zürich kommt.

Der Bericht an die GD empfiehlt dem USZ dringend, von der «Star»-Kultur wegzukommen. Carrels Anstellung steht für das Gegenteil.
Die Zeit der Stars in der Medizin ist tatsächlich vorbei. Medizin ist Teamarbeit. Wir Schweizer hinken da noch etwas hinterher, während angelsächsische Spitäler aufzeigen, wie zentral die Teams geworden sind.

Sie weichen aus. Carrel ist der Schweizer Starchirurg schlechthin.
Er kommt nicht als Star, sondern als guter Chirurg. Herr Carrel und Herr Vogt sind hervorragende Lehrer. Sie werden die jüngeren Kolleginnen und Kollegen ausbilden.

Mit Vogt ist ein Chirurg Direktor geworden, den Sie aus Studien- und Assistenzarztzeit kennen. Die USZ ist seine Alma Mater. Da fehlt doch die nötige Distanz, um aufzuräumen.
Sie liegen falsch. Es braucht jemanden wie Paul Vogt, der sich mit seiner Alma Mater identifiziert, der die Herzchirurgie in- und auswendig kennt. Und der offen ist, mit den Kardiologen zusammenzuarbeiten.

Bei der Gynäkologie wie der Herzchirurgie haben Sie erst dann alles auf den Tisch gelegt, als die Medien es aufgearbeitet haben. Das ist eine gefährliche Art, mit Risiken umzugehen.
Da bin ich mit Ihnen einverstanden. Tauchen Hinweise auf, muss man einschreiten.

Das ist unter Ihrer Führung in verschiedenen Fällen nicht geschehen.
Die Frage muss doch lauten: Warum kam das so spät zu mir? Warum nicht früher? Warum ging es zuerst an Dritte?

Auf Redaktionen wusste man vor Ihnen, was am USZ nicht richtig läuft.
Ihre Kritik ist berechtigt. Wir erfahren ­gewisse Dinge zu spät. Das darf nicht sein. ­Deshalb haben wir eine zusätzliche externe Whistleblower-Stelle eingerichtet. Das Ziel ist es, Missstände früher aufzudecken.

Ein hehres Ziel. Wie wollen Sie es erreichen?
Wir brauchen eine Kultur am Spital, in der offen über Fehler gesprochen werden kann. Die Amerikaner machen das vorbildlich. Da steht einer hin und sagt, «mir ist ein Fehler passiert». Er erklärt, was geschehen ist, dann wird es besprochen. Eine solche Speak-up-Kultur habe ich am USZ jetzt flächendeckend eingeführt, bei allen 43 Einheiten.

Wenn ein Klinikdirektor einen Fehler macht, können Sie ihn aber nicht entlassen.
Als CEO habe ich bei Klinikdirektoren keine Weisungsbefugnis bezüglich personalrechtlicher Massnahmen. Weder kann ich ei­nen Verweis, noch eine Kündigung oder eine Lohnanpassung aussprechen. Eine verbindliche und effiziente Führung der Direktoren durch den CEO ist nicht möglich.

Dann sind Sie ein machtloser CEO?
Bis zu einem gewissen Grad schon. Bei schönem Wetter läuft das gut. Zieht ein Gewitter auf, bin ich machtlos. Bei schlechtem Wetter kann ich nicht eingreifen.

Sie entziehen sich der Verantwortung?
Falsch. Natürlich übernehme ich Verantwortung. Es gibt am USZ neben den Klinikdirektoren 9940 weitere Kolleginnen und Kollegen. Ohne sie läuft nichts. Die Leistung kommt nicht alleine von den Direktoren.

Wollen Sie künftig zusätzlich einen direkten Zugriff auf die Klinikdirektoren?
Ein CEO an einem Universitätsspital braucht entsprechende Kompetenzen gegenüber seinen wichtigsten Mitarbeitern, sonst kann er nicht führen, wenn das Gewitter kommt. Diese Kompetenz habe ich nicht. Das Problem ist erkannt, die Gesundheitsdirektion will die Empfehlungen im Bericht umsetzen.

Störend sind die vielen Zusatzverdienste, die Chefärzte kassieren. Zahlt das USZ so schlecht, dass sich Ärzte neue Einnahmequellen suchen?
Das heutige Honorarsystem ist nicht mehr zeitgemäss. Es ist zu hoffen, dass der Kantonsrat 2021 ein neues Modell verabschiedet und das Zusatzhonorargesetz anpasst. Ich bin für fixe Löhne. Nicht wer am meisten operiert, soll am meisten verdienen, sondern wer es besonders gut macht. Es soll aber nicht jeder Arzt, jede Ärztin gleich viel verdienen. Wettbewerb ist wichtig.

Annina Hess-Cabalzar von der Akademie Menschenmedizin will die Jahressaläre bei 750 000 Franken beschränken. Warum reicht das einigen USZ-Chefärzten nicht?
Ein Jahreslohn von 750 000 Franken ist ein guter Lohn, die Mehrheit der Klinikdirektoren verdient weniger. Entscheidend ist aber nicht die Höhe des Salärs. Wir müssen Löhne zahlen können, die auf dem Markt bestehen. Eine Obergrenze darf es nicht geben.

Findet man bei tieferen Löhnen allenfalls bessere Ärzte? Solche, die sich für Patienten und nicht für ihr Portemonnaie interessieren?
Das würde ja heissen, dass die Qualität dem Einkommen widerspricht. Es gibt keine Studie, die das belegen würde. Wir wollen immer die besten Ärzte verpflichten können. Das geht nur mit marktgerechten Salären.

Sie und andere Klinikdirektoren sind am Spital wie an der Universität angestellt. Das verstehen viele nicht.
Ein Universitätsspital ist nur so gut wie die dazugehörige Universität. Da besteht eine enge Verbindung. Das Spital macht nicht nur Versorgung, sondern Forschung und Lehre. Das soll so bleiben. Aber die Doppelanstellung ist kein zeitgemässes Modell mehr.

Sie sitzen im Aufsichtsrat der Fresenius Me­dical Care, einer global tätigen Firma, die Dialyse-Geräte ans USZ verkauft. Da liegt ein klarer Interessenkonflikt vor.
Ich bin für das globale Unternehmen tätig. Anfragen aus der Schweiz lehne ich ab. Zugesagt habe ich, weil der Spitalrat feststellte, dass kein Interessenkonflikt besteht. Und es gelten klare Ausstandsregeln. Der Umsatz des USZ mit FMC beträgt 0,2 Prozent, also 2 Promille des Gesamtumsatzes. Der Umsatz des FMC mit dem USZ liegt bei 0,001 Prozent.

Der öffentliche Ruf des USZ ist trotz der Pandemie angeschlagen. Wie gross ist der Scherbenhaufen, vor dem Sie heute stehen?
Es gibt keinen Scherbenhaufen. Das System läuft sehr gut. Das USZ besteht nicht nur aus drei Kliniken, die in der Kritik standen. Es besteht aus 43 Kliniken, für die engagierte Kolleginnen und Kollegen arbeiten. Die Identifikation der Bevölkerung mit dem Spital ist hoch. Wir stellen die besten Leute an.

Wie viele Intensivbetten sind im USZ aktuell noch frei?
Wir haben genügend Kapazitäten. Dringende Eingriffe können wir jederzeit durchführen. Von 64 Intensivbetten sind 22 von Covid-Patienten belegt.

Am USZ konnte die Covid-Sterblichkeit seit Frühling halbiert werden. Wie gelang das?
Genau erklären können wir es noch nicht. Wir hoffen, dass es so bleibt. Viele Erkenntnisse aus dem Frühling fliessen in die derzeitige Behandlung ein.

Sie tönen, als wollten Sie noch lange Spitaldirektor bleiben.
Ja, denn ich mache das gern. Das Leben ist ein einfaches System. Es beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Dazwischen ist nur etwas wichtig: Lebensqualität. Ich ar­bei­te mit interessanten und engagierten Menschen. Das ist hohe Lebensqualität.