Der kalte Cyber-Krieg

Im Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China gehts um weit mehr als eine Videoplattform: Er bremst den digitalen Fortschritt.

Text: Peter Hossli Fotos: 丁亦然 und Jan Folwarczny on Unsplash

Unter Teenagern brach weltweit Panik aus, als der amerikanischen Präsident Donald Trump am 13. September verkündete, er werde die App TikTok in den USA verbieten. Schon im November 2020 sei Schluss. Westlichen Ländern, die nicht nachziehen würden, drohte er Sanktionen an. Die Kurzvideoplattform gehöre dem chinesischen Konzern ByteDance und stelle ein Sicherheitsrisiko dar. ByteDance sauge grosse Mengen von amerikanischen Daten ab und leite sie an die Kommunisten in Peking weiter.

Wenige Tage nur konnten Eltern hoffen, ihre Kindern würden vielleicht wieder einmal ein Buch zur Hand nehmen, anstatt nonstop ihre Zeit auf TikTok zu verbringen. Sieben Tage später kam die Kehrtwende: Die beiden amerikanischen Konzerne Oracle und Walmart gaben bekannt, sie würden den nicht chinesischen Teil von TikTok übernehmen, ihn unter dem Brand TikTok Global bündeln und über amerikanische Server laufen lassen. Präsident Trump liess sich als Vermittler feiern. «TikTok-Nutzer können aufatmen», titelte die «Neue Zürcher Zeitung». Gemeint waren vor allem Teenager, die wieder einen Sinn im Leben sahen.

Anders die Chinesen. Sie fühlten sich gedemütigt. Der Verleger der regierungstreuen Zeitung «Global Times» in Peking nannte den TikTok-Verkauf einen «offenen Raubüberfall». Regelrechte Wild-West-Methoden würden in den USA wieder gelten.

Was war geschehen? Warum mischt sich der US-Präsident mit ganzer Kraft in eine App ein, die vor allem der seichten Unterhaltung dient? Nun, es ist komplex, und letztlich der grosse Konflikt unserer Zeit. Zwischen China und den USA tobt ein wüster Handelskrieg, der weit über TikTok hinausgeht. Er betrifft die gesamte westliche Welt und China, wobei sich derzeit vor allem Amerika dem Reich der Mitte entgegenstellt.

China hat sich ein grosses Ziel gesetzt. Bis 2049 will die Volksrepublik zur weltweit grössten Wirtschaftsmacht aufsteigen, bis zum 100. Jahrestag der Gründung des modernen Landes. Jedes Mittel ist den Chinesen recht, selbst unlautere Methoden. Sie betreiben Industriespionage, schotten Märkte ab, attackieren Konkurrenten mit Dumpingpreisen und subventionieren ihre Firmen mit Milliarden aus der Staatskasse. Ein Ende dieses Handelskriegs ist nicht absehbar. Ökonomen rechnen sogar damit, dass dieser sich noch über Jahrzehnte hinziehen dürfte.

Derweil ist Präsident Trump im Weissen Haus umgeben von Beratern, die China als grosse Bedrohung für Amerika sehen. Sie drängten ihn bereits beim Amtsantritt 2017 dazu, Peking die Stirn zu bieten. Was dieser anfänglich vor allem rhetorisch tat. Seit zwei Jahren aber hat er drastische Einfuhrzölle erhoben und China zumindest einige Zugeständnisse abgerungen.

Damit steht der Streit um TikTok stellvertretend für einen neuen Kalten Krieg. Die Schauplätze sind real wie digital. Es geht etwa um die über eine Million inhaftierten uigurischen Muslime in der chinesischen Region Xinjiang, die schwere Menschenrechtsverletzungen erdulden müssen. Um die schwindenden Freiheiten des einst demokratischen Hongkong, um Flotten im südchinesischen Meer – und um die Folgen der Pandemie, die in China begann und die USA empfindlich trifft.

Besonders umkämpft ist der digitale Raum. Amerikanische Apps wie Facebook, Twitter oder Instagram sind in China verboten. Greift Trump chinesische Apps wie WeChat oder die E-Commerce-Plattform PinDuoduo an, so ist das einerseits eine Gegenmassnahme. Aber längst nicht nur. Das Argument der nationalen Sicherheit sei «ziemlich schwach», wie der Cybersicherheitsexperte vom Council on Foreign Relations Adam Segal, sagt. «TikTok ist die erste Social-Media-Plattform aus China, die wirklich global geworden ist», so Segal zu «Time». Solche chinesischen Geschäftserfolge will Trump untergraben, damit er die heimische Industrie schützen kann.

Zudem hat Trump eine Rechnung offen: Diesen Sommer kauften Tik-Tok-Benutzer Tausende Tickets für eine Wahlveranstaltung Trumps in Tulsa, Oklahoma. Sie gingen nicht hin. Der Präsident blamierte sich in einer fast leeren Arena (siehe S. 63).

Noch bevor Trump den Kurzvideodienst in die Knie zwang, hatte er das chinesische Technologieunternehmen Huawei ins Visier genommen. Bereits unter seinem Vorgänger, Präsident Barack Obama, galt der Konzern als Risiko für die amerikanische Sicherheit – und die Privatsphäre amerikanischer Bürger. Unter Trump spitzte sich der Kampf gegen Huawei weiter zu.

Im Dezember 2018 verhafteten kanadische Polizisten auf amerikanisches Ersuchen hin die Finanzchefin des Unternehmens, Meng Wanzhou. Der Vorwurf: Huawei habe die Sanktionen gegen den Iran umgangen. Gleichzeitig ordnete die US-Regierung an, es dürften keine Geräte von Huawei verwendet werden, um 5G-Netze über Amerika zu spannen. US-Diplomaten schmieden eine weltweite Allianz gegen Huawei. Sie drängten Verbündete – insbesondere Grossbritannien, Australien, Kanada, Japan, Neuseeland, Indien und Deutschland –, Huawei beim Aufbau ihrer nationalen 5G-Netze auszuschliessen. Es sei brandgefährlich, ein staatlich kontrolliertes chinesisches Unternehmen damit zu beauftragen, drahtlose Netze aufzubauen, die für die wirtschaftliche Zukunft entscheidend seien.

Der deutschen Kanzlerin Angela Merkel drohte der US-Präsident sogar, er würde aus dem gemeinsamen Geheimdienstabkommen aussteigen, falls Deutschland bei 5G auf Huawei setzt. China wiederum erhöhte den Druck auf Amerikas Verbündete. Wer Huawei verbiete, müsse mit Sanktionen aus Peking rechnen, dem werde der Zugang zur zweitgrössten Wirtschaft erschwert.

Huawei unterbot die Preise von Nokia und Ericsson, womit die Chinesen lukrativer wurden als die nordischen Anbieter. Zudem verwenden etliche Länder, etwa Grossbritannien, in ihren 4G-Netzen chinesische Technologie. Würden sie bei 5G auf Huawei verzichten, müssten sie die bestehenden Netze kostspielig umbauen. Und der Einsatz von 5G würde sich um Jahre verzögern.

Die Mitglieder der Europäischen Union sahen sich zwischen Hammer und Amboss. Zwischen USA und China. Noch im Frühling verzichtete die EU auf ein Verbot für Huawei, empfahl allerdings, den risikoreichen Anbieter zu beschränken. Grossbritannien folgte dem vagen Kompromiss der EU. China, so schien es, hatte im Technologiekrieg einen Vorsprung gegenüber den USA.

Bis im Juli dieses Jahres, als der britische Premierminister Boris Johnson die transatlantische Freundschaft bekräftigte und chinesische Produkte für die britischen 5G-Netze verbot. Bis 2027 müssten zudem sämtliche Huawei-Geräte aus dem 4G-Netz verschwinden. Indien folgte auf Grossbritannien. Kurz darauf verbot Israel Huawei.

Nicht nur bei den Netzwerken greift Trump den chinesischen Konzern an, er untersagt es US-Unternehmen seit Mai 2019, Huawei mit Chips und Software zu beliefern. Was Firmen wie Google, Micron Technology und Qualcomm beachtliche Umsatzeinbussen bescherte. Wobei das Verbot nicht nur amerikanische, sondern fast alle Chip-Hersteller ausserhalb Chinas betrifft. Denn sie sind direkt abhängig von amerikanischer Technologie.

Ohne ausländische Chips wiederum wird es für Huawei schwierig sein, die Basisstationen für 5G zu bauen. Chinesische Firmen benötigen US-Chips. Gleichzeitig sind sie die wichtigsten Kunden für amerikanische Technologiefirmen. Trump geht mittlerweile so weit, dass er Umsatzeinbussen für US-Firmen in Kauf nimmt, um Huawei und andere chinesische Firmen zu schädigen.

Was macht China dagegen? Es kontert mit gigantischen staatlichen Hilfen – mit dem Ziel, eine eigene Halbleiterindustrie aufzubauen. So soll der Kommunikationsriese ZTE neben Mobiltelefonen künftig eigene Chips herstellen. Der Konzern, der in den USA der Industriespionage verdächtig wird, hat bisher zwar Beachtliches geleistet. Allerdings gehen Experten davon aus, dass es noch Jahre dauern dürfte, wenn nicht Jahrzehnte, bis China zu den USA aufschliessen kann.

Doch China hat noch weitere Waffen im Arsenal. US-Firmen wie Apple, Intel oder Microsoft stellen ihre Produkte teilweise auf chinesischem Boden her. Sollte der Streit zwischen den beiden Ländern weiter eskalieren, so könnte China diese Fabriken schliessen – mit fatalen Folgen für das Silicon Valley.

Ob es so weit kommt, ist offen. Klar aber ist: Nach Jahrzehnten enger Kooperation entkoppeln sich die USA und China technologisch zunehmend. Das dürfte für beide Seiten sehr teuer werden, worunter schlussendlich die Konsumentinnen und Konsumenten leiden. Die Preise für digitale Geräte wie Dienstleistungen dürften steigen. Zudem könnte sich der Beginn der schnellen 5G-Netze weltweit verzögern.

Nicht etwa esoterisch gesinnte 5G-Kritiker gefährden das superschnelle drahtlose Netz – sondern der chinesisch-amerikanische Handelskrieg. Die Entkoppelung geht weit über den digitalen Raum hinaus. 160 000 Personen beschäftigt der chinesische Mischkonzern Dalian Wanda Group. Ihm gehört der Sportvermarkter Infront, der etwa die Olympischen Spiele, die Fifa und die Uefa vermarktet. Die grösste US-Kinokette AMC Cinemas gehört zu Wanda, ebenso das Hollywoodstudio Legendary Entertainment. Nun fürchtet Wanda, «das nächste Huawei» zu werden – zur Firma, die von der US-Regierung erdrückt wird. Zumal die Beziehungen überall frostig sind. Beide Länder haben Konsulate der anderen Seite geschlossen und Diplomaten sowie Journalistinnen des Landes verwiesen. Chinesen mit Bezug zur chinesischen Armee dürfen nicht mehr in den USA studieren. Und Donald Trump verfolgt sogar die Idee, allen Mitgliedern der kommunistischen Partei Chinas die Einreise in die USA zu verbieten. Das wären 92 Millionen Menschen – ihre Familien nicht eingerechnet.

Das amerikanische Ziel ist klar: Sie wollen Zugang für ihre Firmen zum immer grösser werdenden chinesischen Markt. Doch solange Facebook, Twitter oder Google von China ausgeschlossen sind, dürfte die US-Regierung gegen chinesische Anbieter vorgehen. Egal, wer im Weissen Haus das Sagen hat.