Interview: Peter Hossli Foto: Mateo Avila Chinchilla (Unsplash)
Frau Orenstein, was hören Sie, wenn Sie mit Buben über Gefühle und Sexualität reden?
Peggy Orenstein: Ich habe für mein neues Buch mit über 100 Knaben gesprochen. Es war, als würde ich mit jungen Maurern und Zimmerleuten reden, die gerade von der Baustelle kommen.
Das müssen Sie mir erklären.
Sprachen die jungen Männer über Sex, benutzten sie Verben wie hämmern, nageln, dreschen und schlagen.
Warum reden sie über einen intimen Akt, als würden sie Hütten bauen?
Warum sollten sie das nicht tun? Seit sie klein sind, hören, sehen und erleben sie Intimität als etwas Negatives. Sexualisierte Gewalt gehört schon früh zur Kultur der Knaben. Gefühlswelten werden ins Lächerliche gezogen. Buben schicken sich vermeintlich lustige Texte zu, in denen steht: «Dieses Mädchen sollte man vergewaltigen.» Zu all dem schweigen die Erwachsenen. Wir erziehen unsere Knaben gleichgültig, weil wir nicht mit ihnen sprechen. Das wiederum koppelt sie von sich selbst ab und entmenschlicht sie.
Ist das nicht ziemlich übertrieben?
Eltern, Schulen und Gesellschaft halten die Knaben systematisch von ihrer eigenen Verletzlichkeit fern. Und wissen Sie was? Verletzlichkeit ist ein urmenschlicher Wesenszug. Buben werden von Anfang an in eine verarmte Gefühlslandschaft verbannt. Das haben mir alle Knaben erzählt, mit denen ich gesprochen habe. Es trifft für die USA und bestimmt auch für europäische Gesellschaften zu.
Welche Folgen hat das für die Buben?
Sie sind weder glücklich, noch fühlen sie sich wohl dabei. Ihnen fehlt die menschliche Verbundenheit, nach der wir uns doch alle sehnen. Forscher bezeichnen die eigene Verwundbarkeit als «geheime Sauce für gesunde Beziehungen». Verkümmern Buben früh, ist es für sie schwierig, später Beziehungen zu haben, die ihnen guttäten. Und es zwingt die Frauen dazu, den emotionalen Teil in Beziehungen allein zu übernehmen.
Sie sagen, es beginne in der Erziehung. Mütter sprechen mehr mit kleinen Mädchen als mit Buben. Sie tun das mit einem reicheren Wortschatz. Väter sprechen kaum mit Söhnen oder Töchtern. Reicht es, als Erklärung zu sagen: Knaben fehlt der einfühlsame Vater?
Es ist komplexer als das. Nur wenige Knaben sagten mir, ihr Vater sei ein Idiot oder ein Kerl, der ihnen ständig einbleuen würde: «Sei endlich ein Mann!» Die meisten beschrieben ihren Vater als liebevollen, tollen Typen. Kaum ein Vater bringt seinem Sohn die sogenannte toxische Männlichkeit bei. Aber fast alle Väter sind unfähig, mit ihren Söhnen über Gefühle zu reden. Buben haben mir gesagt, ihre Väter vergrüben sich lieber im Boden, als sie auf dieser Ebene anzusprechen. Die Knaben lernen von ihren Vätern, ihre Gefühle zu unterdrücken.
Die Forschung zeigt, dass gerade kleine Knaben ein ausgeprägtes Verständnis für Emotionen und den Wunsch nach Beziehungen haben. Warum verschwindet das bereits im Alter von fünf oder sechs Jahren?
Knaben sind verletzliche und zerbrechliche Wesen. Wegen der fehlenden Zuwendung zu Hause und in der Schule lernen sie aber, dass diese Seite verschwinden muss. Zahlreiche Knaben haben mir erzählt, sie hätten eine hohe Mauer um sich errichtet. Bei vielen geschieht das in der Primarschule, bei anderen bereits mit fünf. Meist im Kindergartenalter nehmen sie erstmals wahr, dass es für sie inakzeptabel sei, ihre Gefühle zu betonen – allein weil sie Knaben sind. Zur selben Zeit hören die Eltern auf, richtig mit ihnen zu reden. Die Knaben lösen sich deswegen von allen Schwächegefühlen und fangen an, Freundschaften mit Mädchen abzulehnen und sich hierarchisch zu verhalten.
Sie machen dafür das Schweigen der Eltern und insbesondere der Väter verantwortlich. Worüber sollten wir mit Knaben reden?
Wenn sie noch klein sind, über ihre Verletzlichkeit, später über gesunde und positive sexuelle Beziehungen. Wir müssen das männliche Repertoire für den Umgang mit Enttäuschung, Wut und Lust gezielt erweitern. Wir sollten nicht nur sagen, was wir von Buben nicht wollen, sondern was wir uns von ihnen wünschen. Eltern rate ich, ihren Söhnen konkret zu helfen, deren Gefühlslage anzusprechen. Es ist wichtig, ihnen Worte zu geben, mit denen sie ausdrücken können, was sie empfinden. Manchmal reicht ein einfacher Satz wie: «Du scheinst traurig.» Oder: «Das hat dich sicher frustriert!» Nötig ist dazu nicht ein einziges Gespräch, nötig sind eine Million Gespräche.
Können und wollen Knaben überhaupt über Intimität und Gefühle reden?
Als Reporterin habe ich lange nicht mit ihnen gesprochen, weil ich dachte, die können das ohnehin nicht. Die sagen nicht mehr als «äh». Es war ein Irrtum. Knaben haben ein enormes Bedürfnis zu reden. Sie reden nicht, weil wir ihnen nicht zuhören.
Bekunden Eltern Mühe damit, weil ihre Eltern schon nicht mit ihnen gesprochen haben?
Ja, aber für das Wohlergehen der Knaben müssen wir darüber hinwegkommen.
Gelingt Ihnen persönlich das?
Ich habe eine Tochter im Teenageralter. Sie hat mir gestern erzählt, sie sei mit ein paar tollen Burschen unterwegs gewesen. Sie sagte: «Es sind Jungs, die sich selbst spüren, die über ihre eigenen Gefühle sprechen können. Deshalb sind es meine Freunde.» Aber, betonte sie, das sei leider sehr selten.
Wir reden oft über das Selbstwertgefühl heranwachsender Mädchen. Warum machen wir das nicht bei den Buben?
Die Knaben sind vergessen gegangen. Man kann Mädchen so lange stärken, wie man will: Es reicht nicht aus, wenn die Knaben abgekoppelt sind. Der Feminismus hat Mädchen eine Alternative zur althergebrachten Weiblichkeit geboten. Die Buben hingegen haben keine Alternative zur klassischen Männlichkeit. Wir konzentrierten uns auf Mädchen, weil wir sie stärken mussten. Aber niemand dachte daran, wie wichtig es wäre, gleichzeitig die Knaben zu stärken.
«Knaben weinen nicht» ist ein geläufiger Satz. Warum lassen Buben keine Tränen zu?
Tränen würden ja ihre verletzliche Seite offenbaren. Knaben glauben aber nach wie vor, diese Seite stehe ihnen nicht zu. Dabei wollen sie weinen. Sie wollen dieses Tabu brechen, ohne sich dafür schämen zu müssen. Begriffen habe ich das erst durch die Gespräche. Knaben konnten vor mir weinen, weil sie mir vertrauten. Ein Jugendlicher sagte mir: «Wir lernen, mit niemandem intim zu sein, uns niemandem anzuvertrauen.»
Trainieren wir die Knaben darin, nichts zu empfinden?
Ein Bursche erzählte mir, er hätte gerne geweint, als sich seine Eltern scheiden liessen. Er schaffte das aber nicht, da er sich bewusst beigebracht hatte, nicht zu weinen. Also schaute er an einem Wochenende drei Filme über den Holocaust, um endlich weinen zu können. Das hat für ihn funktioniert.
Eine der intimsten und wichtigsten menschlichen Ausdrucksformen ist Zärtlichkeit. Wir schreiben sie fast nur den Mädchen zu.
Weder Knaben noch Männer assoziieren wir mit Zärtlichkeit. Dabei trifft es einen Menschen im Innersten, wenn er nicht zärtlich sein darf. Knaben haben sehr zärtliche Eigenschaften. Sie erzählten mir, sie dürften sie nicht leben. Was mich erschüttert hat.
Irgendwann auf dem Weg vom Knaben zum Jüngling sollte die sexuelle Aufklärung erfolgen. Mütter reden dabei mit ihren Töchtern. Aber wer redet mit den Söhnen?
Falls überhaupt jemand mit ihnen redet, dann die Mütter. Doch selbst mit ihren Töchtern reden sie nicht wirklich. Letztlich redet niemand mit niemanden. Mädchen wird Angst gemacht, Mütter betonen Risiken und Gefahren. Aber alle versäumen es, über Verantwortung und die schönen Seiten des Sex zu sprechen. Wir hüllen uns in Schweigen über etwas, das bei Heranwachsenden extrem wichtig wäre: die Sexualität. Die meisten Eltern sagen ihren Kindern einzig, sie sollen nicht schwanger werden und sich nicht mit HIV infizieren. Dabei wissen Kinder, dass es um viel mehr geht. Unsere Generation hat den Luxus des Schweigens über Sex längst nicht mehr. Wir können nicht mehr so tun, als hätten Jugendliche keinen Sex. Uns umgibt eine sexualisierte Medienkultur, die gigantisch ist und ein absolut verzerrtes Bild von Sex offeriert. Darüber müssen wir endlich offen reden.
Malen Sie hier nicht zu düster? Immer wieder wird den Medien die Schuld für den Untergang der Jugend zugeschoben.
Wir hätten diese eine Stunde Interview nur damit verbringen können, über die Folgen von Pornografie zu reden. Das hätte genug hergegeben. Doch wie sieht es mit Musik aus? Der aktuelle Hit? Der neuste Rap? Er nimmt pornografische Muster und führt sie in den Mainstream. Selbst wer keine Pornos schaut, wird davon beeinflusst. Ein Jugendlicher erzählte mir, Musik beeinflusse, wie er mit Mädchen umgehe. Manche Songs geben irgendeine Version des Satzes «Fick die Schlampe, und wirf sie weg». Wer 10- oder 20-mal hört, man solle schnellen Sex mit einem Mädchen haben und es danach verlassen, wird davon beeinflusst.
Dann «hämmert» und «nagelt» er. Haben junge Männer keine Kraft, sich gegen das eigene erniedrigende Gehabe zu wehren?
Zwar spüren sie, dass ihr eigenes Verhalten sie und andere verletzt, aber fast keiner wehrt sich dagegen. Und selbst wenn sie selbst nicht auf diese Weise reden, ist es für sie schwierig, sich dem zu entziehen oder Kollegen zurechtzuweisen, die so reden. Sie fürchten, verspottet und geächtet zu werden, Aussenseiter zu sein. Knaben lernen früh, Frauenfeindlichkeit totzuschweigen oder sie als normal zu betrachten.
Was für Männer wachsen da heran, die umgeben sind von verbaler Gewalt und sie offenbar akzeptieren?
Viele junge Männer beklagten sich bei mir über unbefriedigende sexuelle Erfahrungen. In den USA hat sich die sogenannte Hook-up-Kultur entwickelt. Dabei hat man Sex ohne emotionale Bindung. Im besten Fall behandeln sie ihre Partnerin schlecht und gleichgültig, im schlimmsten Fall kommt es zu Übergriffen und Nötigungen.
Ist die Gewalt von Männern auf die Mauer zurückzuführen, die Knaben um sich errichtet haben?
Dass Knaben emotional unbefriedigt heranwachsen, hat reale Folgen. Ablesen kann man sie in amerikanischen Statistiken, in denen junge Männer die jungen Frauen bei weitem übertreffen: bei der Gewalt gegen sich selbst und andere, bei Depressionen und Drogenmissbrauch, bei der Suizidrate.
Warum wollen junge Männer denn Hook-up-Sex, wenn er sie nicht befriedigt?
Ein Jüngling erklärte es mir so: Ist er mit einer Frau zusammen, die er nicht gut kennt und nicht sonderlich mag, kann er sich für einen Moment einbilden, tatsächlich verletzlich zu sein, sich also zu spüren. Dabei erlebt er keine echte Verletzlichkeit.
Und diese vorgetäuschte Intimität gefällt ihm?
Er beschreibt es als seltsam und alles andere als lustig. Der Sex sei meist ziemlich schlecht. Aber darum geht es gar nicht. Es ist bei einem Hook-up nebensächlich, was ein Halbwüchsiger mit einer Frau in einem geschlossenen Raum erlebt. Wichtig ist die Geschichte, mit der er nachher öffentlich angeben kann. Durch die Prahlerei werden allerdings tiefe Ängste befeuert. Mancher glaubt, seine Kumpels hätten viel mehr aussergewöhnlichen Sex als er selbst. Dass der Sex schön sein sollte, darum geht es nicht.
Wie beeinflusst die allgegenwärtige Pornografie dieses prahlerische Verhalten?
Es gab Pornos, lange bevor sich die Hook-up-Kultur entwickelt hat. Seit die Zahlschranken weg sind, sind sie allgegenwärtig und sofort zugänglich. Die meisten Knaben schauen Pornos, bevor sie erstmals Händchen halten, also sehr jung. Da Erwachsene mit ihnen nicht über Sexualität reden, übernehmen Pornos die Sexualerziehung. Eltern sollten ihren Kindern doch sagen, dass sie ihnen ein tolles Sexleben wünschen, dass Pornos ihnen dabei weit mehr schaden als helfen.
Pornos geben ein karikiertes Männerbild wieder. Wie nötig sind in den Medien andere Bilder von Männlichkeit?
Die negativen Auswirkungen der Medien auf Mädchen und deren Selbstwertgefühl sind uns bewusst. Eltern und Schulen bemühen sich sehr, andere Frauenbilder zu zeichnen. Das gelingt zwar noch nicht überall, aber es gibt beachtliche Fortschritte. Bei den Knaben versuchen wir es nicht einmal, sie von gängigen Rollenbildern zu befreien.
Wie sehen sich Burschen denn selbst?
Als ich die Jugendlichen bat, zu beschreiben, was einen «idealen Mann» ausmacht, schickten sie mich zurück in die fünfziger Jahre: Sie wollen dominieren, aggressiv sein, gut und stark aussehen, gross sein, sexuell potent, stoisch und sportlich. Es gehört dazu, reich werden zu wollen. Dabei waren jene, mit denen ich sprach, eher auf der liberalen Seite des politischen Spektrums. Am rechten Rand dürfte das noch schlimmer ausfallen.
Sie schreiben, Knaben seien auf bessere Modelle von Männlichkeit angewiesen. Woran fehlt es?
Junge Männer können auf zahlreiche Vorbilder zurückgreifen, aber diese drehen sich fast ausschliesslich um Macht, Leistung und sexuelle Fähigkeiten. Kaum ein Vorbild verbindet Männlichkeit mit Mitgefühl und Freundlichkeit, mit Moral und Ehrlichkeit.
Mädchen im Teenageralter reden oft über Geschlechterfragen. Tun das die Burschen?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Während der Anhörung im US-Senat zur Bestätigung von Richter Brett Kavanaugh …
… der amerikanische Richter soll als Jugendlicher mehrere Frauen bedrängt haben …
… habe ich einige Burschen gefragt, was sie darüber denken. Fast alle sagten mir, sie hätten keine Ahnung davon. Aber jede Frau, die ich kenne, hat darüber gesprochen.
Hat denn die Diskussion über Harvey Weinstein und #MeToo nichts daran geändert, dass junge Männer solche Debatten mitverfolgen?
Eine schwindelerregend hohe Zahl von ihnen konnte mir nicht sagen, was #MeToo ist, und sie kannten Weinstein nicht. Für mich war das schockierend. Offenbar nutzten Eltern diese Gelegenheit nicht, mit ihren Söhnen am Esstisch über sexualisierte Gewalt zu reden. Mit den Töchtern taten sie es.
Sie haben viele Bücher über Mädchen geschrieben. Warum befassen Sie sich nun mit Buben?
Weil ich gemerkt habe, dass ich nur eine Hälfte des Gesprächs geführt hatte. Wir Frauen mussten vieles ändern. Aber das können wir nicht vollständig tun, wenn wir nicht darüber reden, was mit den Knaben los ist. Nicht nur unseretwegen, sondern wegen der Buben, wegen ihrer psychischen Gesundheit und ihres Wohlbefindens.
Muss eine Frau die Männer retten?
Mein Interesse gilt gesunden Beziehungen und positiven sexuellen Begegnungen. Das lässt sich nicht erreichen, wenn wir nicht mit Knaben reden. Eltern wünschen sich doch, dass ihre Söhne bessere Männer, bessere Partner und glücklichere Menschen werden.
War es schwieriger für Sie als Journalistin, mit Buben als mit Mädchen zu reden?
Es ist eindringlicher, mit Knaben zu sprechen als mit Mädchen. Ihre Darstellungen von inneren Verletzungen sprudelten nur so aus ihnen heraus, als sie mit mir sprachen. Sie waren mit einer Reporterin in einer Situation, in der sie ungezwungen über alles reden durften. Das ist für sie selten.
Wie haben Sie als Zuhörerin das empfunden?
Es war schmerzhaft zu hören, wie sehr junge Männer unter grosser emotionaler Unterdrückung leiden, unter dem Gefühl, dass sie keine echten Bindungen eingehen sollten.
Haben sich Ihr Bild über Männer und Ihre eigenen Beziehungen mit ihnen verändert?
Es gab mir eine viel mitfühlendere und nuanciertere Sicht auf Männer und Buben.
Was heisst das für Ihre Tochter?
Nach diesen Gesprächen denke ich natürlich daran, sie für immer in ein Zimmer einzusperren. Aber ich hoffe, dass sie einen guten jungen Mann findet. Es gelingt ihr ja, sich mit emotional zugänglichen Burschen zu verbinden. Davon gibt es nicht so viele. Aber wenn man sie findet, ist es wirklich sehr schön mit ihnen.