Von Peter Hossli (Text) und Sandra Niemann (Illustration)
An ihrem ersten Triumph haftet ein Makel. Kathy Sullivan stieg am 11. Oktober 1984 in einen formlosen und luftdichten Anzug, verliess 225 Kilometer über der Erde ihr Raumschiff und testete, wie Satelliten mit Sprit zu versorgen wären. Eine Pioniertat, aber eben nicht ganz. «Erste Frau auf Spaziergang im All», hätten die US-Zeitungen gerne getitelt. Doch eine Russin war Sullivan zuvorgekommen. Swetlana Sawizkaja schwebte drei Monate früher stundenlang ausserhalb der Raumstation Saljut 7 durchs Universum.
Erneut waren die Amerikaner nur Zweite, erneut hatten die Sowjets sie geschlagen. Wie 1957, als den Russen mit dem Satelliten Sputnik und der Hündin Laika erste Sprünge ins All gelungen waren. Wie 1963, als mit der UdSSR-Kosmonautin Walentina Tereschkowa erstmals eine Frau ins Weltall geflogen war.
Nun, im Alter von 68 Jahren, hat Sullivan den Makel abgestreift. Fortan kann sie zwei Superlative für sich allein beanspruchen. Als erste Frau tauchte sie 10928 Meter unter den Meeresspiegel, bis ins Challengertief. Dieser Abgrund liegt im Marianengraben im Pazifischen Ozean, 300 Kilometer südlich der Insel Guam. Dort waren bisher erst 8 Personen, während schon 568 die Erdatmosphäre verliessen. Kathy Sullivan ist nun der einzige Mensch, der ganz oben im Kosmos war und ganz unten am tiefsten Ort der Erde.
Sie wuchs in Kalifornien in einer Mittelklassefamilie auf. Die kleine Kathryn verschlang Bücher über Astronauten und den französischen Tiefseetaucher Jacques Cousteau. «Es waren kluge Menschen, denen es gelang, grosse Dinge zu bewegen», sagt sie zu CNN. Deren glühende Wissbegierde und der Sinn für echte Abenteuer klangen bei ihr an.
Sie studierte Meereskunde, promovierte in Geologie, erwarb nebenher die Lizenz zum Fliegen. Eine Familie gründete sie nie. Mit 26 hatte sie einen Traumjob: Astronautin.
Zusammen mit sechs anderen Frauen heuerte sie 1978 bei der Nasa an. Es waren die ersten Astronautinnen in den Diensten der US-Raumfahrtbehörde. Sullivan wurde auserkoren für den schwerelosen Rundgang im All. Dreieinhalb Stunden verbrachte sie mit einem Kollegen ausserhalb der Challenger, gesichert durch ein Seil. Zuletzt trug sie eine defekte Antenne zurück ins Spaceshuttle. Der damalige Präsident Ronald Reagan rief sie nach geglückter Mission an – aus einem fahrenden Wahlkampfzug in Ohio.
Insgesamt dreimal flog Sullivan im Shuttle ins All, verliess die Nasa 1993, ging zurück an die Universität. Präsident Barack Obama ernannte sie zur stellvertretenden Handelsministerin, 2014 setzte er sie an die Spitze der Ozeanografie- und Klimabehörde.
Vor einem Jahr schlug ihr der texanische Investor Victor Vescovo eine gemeinsame Tauchfahrt in die Challengertiefe vor. «Kein Meeresbiologe, der etwas auf sich hält, schlägt eine solche Einladung aus», sagt sie.
Vier Stunden dauerte am Montag der Abstieg in der DSV Limiting Factor, dem einzigen Tauchboot, das mehrmals in solche Tiefen abgesunken war. Die Reise nach unten verglich Sullivan mit einem «Langstreckenflug in Premium Economy». Im Gegensatz zu Flügen ins All empfand sie den Tauchgang als nicht sonderlich anstrengend. Sie streckte die Beine, machte sitzend Yoga, zog einen Pullover über. Den Aussendruck spürte sie nicht. Das Absinken in die Tiefe sei «wie eine magische Liftfahrt». Es wurde kälter, dunkler und stiller. Ein Raketenstart hingegen ähnle «dem Ritt auf einer Bombe».
Das Duo hielt sich 90 Minuten auf dem Meeresgrund auf, ass Chips, Sandwiches mit Thonsalat und Apfelstrudel, genoss die Aussicht. «Ich fühlte mich, als ob ich über eine Mondlandschaft fliegen würde», erzählt Sullivan im Interview mit CNN.
Beim Aufstieg schaute sie die Rudyard-Kipling-Verfilmung «The Man Who Would Be King». Auf den letzten hundert Metern begann sich das dunkle Schwarz des Meeres in sattes Blau zu verwandeln, das mit jedem Meter heller, wärmer, tropischer anmutete.
Oben angelangt, funkte Sullivan die Internationale Raumstation an, die 409 Kilometer über ihr kreiste. Sie sprach mit den beiden Astronauten, die Ende Mai an Bord des SpaceX-Raumschiffs von Tesla-Gründer Elon Musk ins All geflogen waren. Taucherin wie Raumfahrer hatten Transporter benutzt, die reiche Männer finanziert hatten. Einer – Vescovo – hatte 2010 den Mount Everest bestiegen. Nun ist er der Einzige, der auf dem höchsten Berg stand und zum tiefsten Ozean tauchte. Damit genug der Superlative.