Das Superglas

Zufällig erfand ein Chemiker das Plexiglas. Es half beim Abwurf der Atombomben. Jetzt schützt es uns vor Spucke. Das Porträt eines Kunststoffs.

Von Peter Hossli

Erfunden hat er es nicht. Aber ­Roger Schawinski war der Erste, der in einer SRF-Talkshow eine Plexiglaswand zwischen sich und seinen Gast stellen liess. «Ich gratuliere Ihnen zur Idee mit der Scheibe», lobte alt Bundesrat Christoph Blocher. Er sass dem Talker am 16. März im Fernsehstudio gegenüber. «Ohne sie wäre ich nicht zu Ihnen gekommen, ich gehöre der Risikogruppe an.»

An jenem Tag begann in der Schweiz der Lockdown. Acht Wochen später öffnen nun die Läden und Restaurants wieder. Transparente Spuck- und Hustenwände stehen überall. Sie trennen Moderator von Expertin, Kundin von Kassierer, Barkeeper von Barfly. ­Touristiker verbreiten die Ideen, sie in Passagierjets zwischen Stühle zu klemmen und an Stränden aufzustellen. Wie eine durchsichtige Mauer, die den «unsichtbaren Feind» fernhält, wie Donald Trump das Coronavirus nennt.

Das Leben hat sich hinter Plexiglas verzogen. Dort dürfte es vorerst bleiben. «Meine Kunden haben nicht vor, die klaren Wälle wieder abzubauen», sagt Ralph Moser, Betriebsleiter der EMO-Plastic AG im bernischen Safnern, einem beschaulichen Dorf nördlich von Biel. Fräsen surren, an der Decke drehen Ventilatoren, Arbeiter tragen Sockel und Platten aus Plexiglas in Lieferwagen. Die Ware geht an eine Bank im Seeland, in ein Luxushotel in der Zentralschweiz, zu einem Zürcher Grossraumbüro. Fitnessstudios und Zahnarztpraxen liessen sich mit passgenauem Virenschutz ausstatten. Musikschulen prüfen, wie sich die Scheiben auf die Akustik auswirken.

«Die Nachfrage hat sich verzehnfacht», sagt Moser. Mit jeder Öffnung steige sie weiter an. Ladenbetreiber seien ungeduldig. Hatte er zuvor Lieferfristen von zwei bis vier Wochen, müsse nun in drei Tagen alles bereit sein. Das vermeintlich systemrelevante Rohmaterial ist hierzulande knapp geworden, zumal es niemand in der Schweiz herstellt. Platten in einer besonders beliebten Dicke seien nicht mehr erhältlich. Trotzdem erhöht Moser die Preise nicht. Ein Quadratmeter Plexiglas, auf Mass gefräst, kostet 180 Franken, mit Füsschen.

Zufällig entdeckt
Plexiglas ist kein Produkt, sondern ein Markenname für Acrylglas: durchsichtiges, hartes Plastik. Aus Erdöl entsteht feines Granulat, vier bis fünf Millimeter lange klare Körner. Sie schmelzen bei Temperaturen von 180 Grad zur teigigen Masse. Diese wird durch dünne Schlitze gepresst. Zurück bleiben klare Platten, die in Grössen von zwei auf drei Metern von Deutschland in die Schweiz gelangen.

Handwerker mögen den schlagzähen Baustoff, da er leichter und günstiger ist als Glas. Er vergilbt dreissig Jahre lang nicht, lässt sich präziser fräsen, schneiden und polieren als Holz. Hitze verformt ihn problemlos, weswegen er bei Künstlern und Designern von Leuchtreklamen beliebt ist. Ohne zu splittern, lassen sich in Plexiglas exakte Bohrlöcher drehen.

Verschiedene Firmen stellen Acrylglas her. Das hochwertige Plexiglas aber stammt einzig von der Röhm GmbH, einer Firma mit 3900 Mitarbeitern. Sie fabrizieren es südlich von Frankfurt in Weiterstadt, in Südafrika, in den USA und in Russland. «Die gestiegene Nachfrage hat sich je nach Typ auf das Fünf- bis Zehnfache des vormaligen Volumens eingependelt», sagt Röhm-Geschäftsführer Michael Pack. Weltweit rechnet er mit «einer zweiten grossen Auftragswelle».

Plexiglas gibt es seit 87 Jahren, erfunden hat es der deutsche Chemiker Otto Röhm. ­Ende der 1920er Jahre hoffte er, Autos mit splittersicherem Glas auszustatten. Er experimentierte mit Kunststoffen. Zufällig gelang ihm der Durchbruch, als er eine Flasche mit Polymethylmethacrylat an der Sonne stehen liess. Das Licht liess die Glasflasche bersten. Zurück blieb eine feste, durchsichtige Masse. Röhm sei perplex gewesen. Fortan sprach er von Plexiglas.

Zur Welt kam der Tüftler 1876 in der Nähe von Stuttgart. Er bildete sich zum Apotheker aus, studierte danach in Tübingen Chemie. Seine Dissertation verfasste er «Über Polymerisationsprodukte der Akrylsäure» – über eine farblose, durchsichtige, elastische Masse, die sich in Wasser nicht löst. Er legte damit die wissenschaftliche Grundlage für Plexiglas.

Der Chemiker wurde zum Unternehmer. Mit dem Kaufmann Otto Haas gründete er 1907 die Röhm & Haas GmbH. Sie entwickelten ein auf Enzymen basierendes Beizverfahren, das hygienischer war als tierische Exkremente, wie Gerber sie bisher benutzt hatten. Hinzu kamen Seifen, Waschmittel und Verdauungsförderer.

Nach dem Ersten Weltkrieg setzte Röhm vermehrt auf Kunststoffe – und fand Plexiglas. Es gelang ihm, das Rohmaterial zwischen herkömmlichem Glas zu polymerisieren, also auszuhärten, und daraus dünne Acrylglasscheiben zu ziehen. Am 4. Dezember 1933 trug Röhm das Warenzeichen Plexiglas unter der Nummer 461639 ein. Ab 1936 stellte zusätzlich die amerikanische Tochterfirma die bruchsicheren Scheiben in Pennsylvania her.

Der Werkstoff breitete sich aus. Wo Klarsicht gefragt war, Glas jedoch zu zerbrechlich, zu schwer und zu teuer war, setzten Ingenieure auf Plexiglas, insbesondere in der Luftfahrt.

Tantièmen für Hitler
Otto Röhm starb 1939 als reicher Mann in Berlin. Er erntete den Erfolg nicht mehr, den der Zweite Weltkrieg seiner Erfindung bescherte. Die deutsche und die US-Luftwaffe versahen Cockpits und Nasen ihrer schweren Bomber mit leichtem Plexiglas. Späher sassen in den klaren Nasen und halfen Piloten, Ziele anzuvisieren. B-29-Superfortress-Maschinen waren mit Plexiglas ausgestattet, als sie im August 1945 zwei Atombomben über Japan abwarfen.

Der deutsche Baustoff löste in den USA eine Kontroverse aus. «Hitler gets a cut», titelte das Monatsmagazin «Click» im Juni 1941. Hitler sei finanziell beteiligt an fast jedem amerikanischen Flugzeug, da es mit deutschem Baustoff versehen werde. «Die Nazis kontrollieren Plexiglas», führte das Magazin aus. Zwar werde das Plastik der Bomber in den USA gefertigt, die Gewinne flössen aber ans deutsche Mutterhaus. Dieses werde wie die gesamte Industrie Deutschlands von Nazis kontrolliert.

Nach Kriegsende richtete Röhms Sohn Otto die von den Alliierten zerbombte Fabrik wieder auf. Architekten verbauten Plexiglas nun in Aquarien und verstärkten damit Balkone. Über das Münchner Olympiastadion legten sie 1968 eine zeltartige Dachlandschaft. Auf 10000 Meter Höhe birst Glas. Deshalb setzten Flugzeugbauer in Cockpits und Passagierräumen Fenster aus Acrylglas ein. Im Golf von Toulon bei Marseille entstand unter Wasser eine Seilbahn aus Plexiglas. Designer entwarfen aus dem Material poppige Stühle und farbiges Geschirr. Gemüsebauern errichteten ­Gewächshäuser, weil sich die Temperatur besonders gut regulieren lässt. Schlagersänger Udo Jürgens spielte 1983 auf dem Jungfraujoch auf einem durchsichtigen Flügel – aus Plexiglas.

Letztes Jahr veräussert
Mehrmals wechselten die Besitzer des Konzerns. Zuletzt besass Dow Chemical den US-Teil, der Essener Chemiekonzern Evonik den deutschen. Dieser veräusserte im August 2019 die Plexiglas-Division für 3,3 Milliarden Dollar an die amerikanische Private-Equity-Firma Advent International. Die neuen Eigentümer kramten den alten Namen hervor – und nannten die Firma Röhm GmbH. Zu den Nachfahren des Erfinders besteht kein Bezug. Diese liessen sich vor Jahrzehnten am Genfersee nieder. Die Familie kontrolliert die Zürcher Firma Röhm AG, die Plexiglas exklusiv in die Schweiz und nach Liechtenstein importiert.

Vor der Corona-Krise gelangten jährlich rund 20000 Tonnen Plexiglas in die Schweiz, wie der Branchenverband Kunststoff Swiss angibt. Was aber, wenn sich alle 100000 Lehrkräfte der Schweiz hinter einer klaren Trennwand schützen wollen? Diese Aussicht beglückt weder den Importeur noch die zahlreichen Verarbeiter. Sie reden – hinter vorgehaltener Hand – über Nachteile des Plexiglas-Booms. Ein hochwertiger Werkstoff werde hier vergeudet. Statt zu Industrieprodukten veredelt zu werden, fange er jetzt Speichel ein.

Immerhin wertet dies das Image der Branche auf. Vor Corona galt sie als Plage, da Mikroplastik die Meere bedroht. Nun wirkt Plastik unabdingbar für den Erhalt der Menschheit. Gut zu wissen: Plexiglas lässt sich rezyklieren.