Von Peter Hossli und Rafaela Roth
Der Jugend gehört die Zukunft. Zuvor aber müssen sich Menschen im Alter von 18 bis 26 Jahren finden. Sie schliessen Ausbildungen ab, beginnen zu arbeiten, erleben Freude und Schmerz der Liebe. Es ist die Zeit, sich von den Eltern zu lösen, selbstbestimmte Menschen zu werden. Man reift politisch, gibt eigenes Geld aus, zieht in die Welt hinaus, übernimmt Verantwortung.
Stört etwas diesen Prozess, sagen Jugendforscher, prägt dies die Persönlichkeit negativ. Zurück bleiben Narben, die kaum verheilen.
Derzeit von Störung zu sprechen, wäre untertrieben. Das Coronavirus und die Massnahmen dagegen versetzen weltweit Jugendliche in Zustände grosser Verunsicherung. Anstatt mit ihresgleichen um die Häuser zu ziehen, verbringen sie die Tage fast nonstop mit Vater und Mutter. Die Grenzen sind zu. Praktika fallen weg, Partys und Prüfungen aus.
Vor kurzem noch bezeichneten die Medien die heutige Jugend als «Generation Greta». Ob sie das in fünfzig Jahren rückblickend noch ist, bezweifelt die Wiener Jugendforscherin Beate Grossegger. Das Klima habe vor allem bildungsnahe Schichten bewegt, Corona lähme alle. «Aufgrund der persönlichen Betroffenheit dürfte die Corona-Krise für diese Zeit prägender sein als die Klimastreiks.»
Karriere
Für Jugendliche kommt die Corona-Bremse zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt. Menschen zwischen 18 und 26 Jahren kämpfen jeweils um einen ersten schulischen Abschluss, erste Erfolge, um die Erfüllung ihrer Ansprüche an das Leben. Der Druck ist gross, Corona erhöht ihn zusätzlich. Der Wert der Titel und Abschlüsse scheint plötzlich ungewiss, die Arbeitslosigkeit steigt, eine Rezession ist unvermeidlich. Die Erwartungen der Eltern jedoch bleiben die gleichen.
«Ein junger Mensch ist unsicher und fühlt sich rasch als Versager, losgelöst von den Umständen, mit denen er zu kämpfen hatte», sagt der deutsche Jugendforscher Klaus Hurrelmann. Die meisten stecken das weg, bei einigen kann das Gefühl existenzbedrohend werden. Die scarring theory, die Theorie der bleibenden Narbe, entfaltet ihre Wirkung: Eine frühe Arbeitslosigkeit wirkt sich auf die gesamte Berufslaufbahn aus, erhöht die Wahrscheinlichkeit, später wieder arbeitslos zu werden. Es droht sich also ein Versagergefühl über eine Generation zu legen.
Drei Faktoren beeinflussen die Auswirkungen: die Tiefe der Rezession, die Dauer der Pandemie und die Herkunft sowie Unterstützung, welche die Jugendlichen erfahren.
In der Schweiz stieg die Arbeitslosigkeit bisher von 2,4 auf 3,3 Prozent. Volkswirte gehen davon aus, dass sie durch die Corona-Krise auf 4,5 Prozent klettern wird. Kurzarbeit federt einiges ab, Massenentlassungen gab es bisher noch keine. Die Jugendarbeitslosigkeit nimmt jedoch rasant zu – weil kaum neue Jobs entstehen: In guten Zeiten werden in der Schweiz täglich 1300 neue Stellen geschaffen, das ist derzeit bei weitem nicht mehr der Fall. Da ausserdem einige Firmen Anstellungsstopps verhängt und Praktika gestrichen haben, fehlen Einsteigerjobs für Junge.
Das kann Spuren hinterlassen. Wer während einer Rezession auf den Arbeitsmarkt kommt, braucht zwischen fünf und zehn Jahre, um daraus entstehende negative Effekte auszugleichen. Man ist häufiger arbeitslos, findet oft nur befristete Stellen sowie Jobs mit tieferen Löhnen. Für benachteiligte Gruppen auf dem Arbeitsmarkt – Frauen, Migranten, schlecht Ausgebildete – dauert es noch länger.
Besser gelingt es jenen, die in den ersten fünf Jahren häufig die Stelle wechseln. «Eine tiefe Rezession akzentuiert die Ungleichheit mittelfristig», sagt Isabel Martinez, Ökonomin an der Konjunkturforschungsstelle der ETH und Expertin für Verteilungsfragen. «Kurzfristig sind alle betroffen, aber gut ausgebildete, nicht benachteiligte Gruppen erholen sich deutlich schneller.»
Das Bild einer pessimistischen Jugend zeigt die eben in Österreich erschienene «Jugendwertestudie 2020: Der Corona-Report». 46 Prozent der 16- bis 29-Jährigen gehen von einer Verschlechterung ihrer Zukunft aus, zwei Drittel erwarten eine Wirtschaftskrise, 80 Prozent einen drastischen Anstieg der Arbeitslosigkeit. Besonders unterprivilegierte und bildungsferne Schichten sehen unsichere Zeiten auf sich zukommen.
Die Schweiz und vor allem ihre Lehrer und Eltern müssen bereits jetzt eine Gruppe Jugendlicher besonders im Auge behalten: 18 Prozent der Schüler und Schülerinnen erklären, im Lockdown abzuhängen statt zu lernen. Das zeigt eine Befragung für den Schulbarometer des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie der Pädagogischen Hochschule Zug, der jetzt erste Resultate liefert. Bei dieser Gruppe macht sich ein Feriengefühl breit, sie büffeln nicht mehr als neun Stunden pro Woche, kommen nicht aus dem Bett, zocken viermal so lange wie andere Schüler.
Ein anderes Drittel erklärt hingegen, sich im Lockdown besser konzentrieren zu können und mehr zu lernen als normalerweise. Die Krise verstärkt somit vorhandene Dispositionen. Dauert sie lange, verstärkt sie den Schereneffekt zwischen den Fleissigen und den Abgehängten.
Entscheidend sind Lehrpersonen – und Eltern. Ihre Haltung Krisen gegenüber kann die Nachteile von Jugendlichen aus sozial schwächeren Milieus abfedern. Je eher ein Grundvertrauen ins Leben besteht und je weniger gestresst sie sind, desto positiver wirkt es sich auf die Jungen aus. Nicht alle gehen demnach als Versager aus der Krise.
Abnabelung
Jugendliche blieben schon vor Corona gerne zu Hause. Im Vergleich zu früheren Generationen verlassen junge Frauen und Männer das Elternhaus heute später. Man mag sich. Rund drei Viertel der Schweizer Jugendlichen kommen mit Mutter und Vater gut bis sehr gut aus. Oft bleiben Eltern ein Leben lang Vorbilder ihrer Kinder, zudem sind sie emotionale Stützen bis ins hohe Alter. Trotzdem müssen Jugendliche den sicheren Hafen der Familie irgendwann verlassen. Um im Leben auf eigenen Beinen stehen zu können, sollten sie selber Akzente setzen. Das gelingt jenen am besten, die selbstsicher ausziehen.
Der Lockdown und die abgedämpfte Konjunktur verschleppen diesen Prozess. «Die Abnablung von den Eltern unterliegt derzeit einem Embargo», sagt Hurrelmann. «Jugendliche sitzen zu Hause mit ihren Eltern, von denen sie dringend weggehen sollten.»
Und das führt zu Konflikten. Gemäss der österreichischen Studie empfinden 30 Prozent der Jugendlichen wegen der verordneten Isolation erhöhte Spannungen in der Familie. Fast die Hälfte der 16- bis 19-Jährigen sagen, dass sich Mitglieder der eigenen Familie auf die Nerven gehen. Zudem mangelt es den Jungen an Kontakten und Austausch zur Gruppe, welche eine Verselbständigung beflügelt: zu gleichaltrigen Freundinnen und Freunde.
Diese sind oft nur noch digital präsent. Dabei eröffnen enge und intime Freundschaften eine neue, aufregende Welt. Um in diese einzutauchen, stürmen Jugendliche in normalen Zeiten geradezu aus dem trauten Heim. Jetzt sitzen sie zu Hause und spielen Videogames. 65 Prozent der befragten 16- bis 19-jährigen Österreicher geben an, sie würden deutlich mehr gamen als sonst. Ein Fünftel trinkt mehr Alkohol. Soziologen halten es für möglich, dass infolge der Monotonie das Suchtverhalten unter Jugendlichen zunehmen könnte.
Junge messen sich derzeit nicht, weder auf dem Sportplatz noch beim Tanz oder beim Gefecht mit Worten vor der Klasse. Dabei betrachten Jugendforscher gesunde Konkurrenz unter Gleichaltrigen als wichtig für die Abnabelung von zu Hause. Erfolge ausserhalb der geschützten vier Wände stärken fürs Leben.
Junge Frauen zieht es früher hinaus als Männer. Jetzt sind sie unfreiwillig im Heimathafen gestrandet. Statt mit dem Freund im Kino zu kuscheln, fühlen sie sich von den Eltern überwacht. Ein Teil der Privatsphäre entfällt, was zur Belastung werden kann.
Wie schwer das Virus die Abnabelung stört, hängt von der Länge des Embargos ab. Öffnen Ende Jahr die Grenzen und wird es wieder möglich, Open Airs und Fussballspiele zu besuchen, holen Jugendliche nach, was sie verpassen. Ein Jahr steckt jeder weg. Nicht aber zwei oder drei. Dann sind Aussetzer wahrscheinlich. Vor allem, wenn Jugendliche in einer zerrütteten Familie aufwachsen, aus der sie nicht entfliehen können. Das trifft auf rund 20 Prozent der Jugendlichen zu.
Es ist schwierig, während Rezessionen erwachsen zu werden, belegt eine im Januar erschienene US-Studie. Wer das erlebt hat, weist zwischen 30 und 50 eine erhöhte Mortalität auf. Herzkrankheiten, Lungenkrebs und Lebererkrankungen treten häufiger auf, ebenso der Tod an einer Überdosis. Wer die Jugend in der Krise erlebt, ist seltener verheiratet, lässt sich häufiger scheiden und bleibt eher kinderlos. Forscher beobachteten dies nach der Finanzkrise in Südeuropa, als sich die Jungen später von den Eltern abnabeln konnten.
Beziehung
Mit der Pubertät erwacht die Sexualität. Sie wird in der Jugend zum festen Bestandteil des Ichs, ist neu und überwältigend. Wohin damit? Mit der Libido? Der Sehnsucht, innig zu sein? Wenig treibt Jugendliche so sehr um.
Nun untergräbt das Virus die sexuelle Entfaltung. Von einem auf den anderen Tag verloren Jugendliche den Zugriff auf eine Welt, die es zu entdecken und zu erleben gilt. «Das kann traumatisierend sein», sagt Hurrelmann.
Möglich ist sexuelle Erfahrung über pornografische Anregungen, oder man stimuliert sich gegenseitig über digitale Kanäle. Aber der Lockdown schränkt die Vielfalt stark ein. Dauert das ein paar Monate, vielleicht ein Jahr, lässt sich damit leben. Sollte es aber zu den befürchteten Jo-Jo-Shutdowns kommen, erwarten Forscher bei einer Generation Störungen, mit Intimität umgehen zu können.
Verstärkt wird eine Tendenz, die sich schon vor Corona abgezeichnet hat: Viele Jugendliche weichen auf virtuelle Stimulationen aus, was langfristig ihre Fähigkeit beeinträchtigt, ein real erfülltes Sexualleben zu führen.
Ähnliches ist laut Hurrelmann bei Freundschaften zu befürchten. Corona beflügelt zwar den digitalen Austausch. Paradox aber: Trotz mehr Kommunikation vereinsamen Menschen – weil viele Reize zu kurz kommen. Bei einem Videotalk über Zoom fühlt, riecht und berührt sich keiner. Hirnforscher haben gezeigt, wie wichtig es in Jugendjahren aber wäre, sich zu umarmen, zu spüren. Bereits vor Corona stellten Forscher bei etwa 15 Prozent der Jugendlichen gewisse Kontaktschwierigkeiten aufgrund digitaler Kommunikation fest. Nun könnte sich die Zahl auf 30 Prozent verdoppeln. Abhanden komme überdies Alltagswissen: wie man sich grüsst, wie man sich richtig kleidet, wie man einen Streit ausficht.
Zugute kommt dieser Generation, dass sie in einer pluralistischeren Welt aufwächst als vorangegangene. Die Lebensentwürfe sind vielfältiger, die Weltbilder ebenfalls. Sie bringen bessere Fähigkeiten im Umgang mit anderen mit und sind eher in der Lage, Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.
Forscher Hurrelmann glaubt zudem, dass junge Frauen einfacher durch die Corona-Krise kommen als Männer. Sie sind sich gewohnt, selbständig zu lernen, stehen offener im Leben, bewältigen Unsicherheiten besser. Empirisch belegen lässt sich bereits, dass introvertierte Jugendliche den Shutdown besser ertragen als extrovertierte. Die plötzliche Stille stört die Stillen weniger als die Lauten.
Gibt es etwas Positives? Ist bei Jungen mehr Musse, mehr Entschleunigung, mehr Solidarität zu erwarten? Jugendforscherin Grossegger winkt ab. «Wenige werden Gutes aus Corona ziehen, die meisten müssen versuchen, ihr Leben wieder auf die Reihe zu kriegen.»