Von Peter Hossli
Zäher Nebel bedeckte Reuss, Aare und Limmat. Mancher Reporter wäre an diesem grimmig kalten Abend lieber zu Hause gewesen, bei einem Glas Wein, einer Toscani oder einer Sultana. Stattdessen sassen etliche Journalisten im Polizeigebäude nahe des Aarauer Bahnhofs. Sie rauchten, tratschten, schnürten sich lose Krawatten straff und warteten auf Polizeikommandant Felix Simmen.
Was der Polizeichef sagen würde, wussten die Reporter bereits. Längst hatte es sich im Aargau und an vielen Orten der Schweiz herumgesprochen: Der Mörder von Stadelmann war gefasst. Präziser: Er hatte sich gestellt und war geständig. Kein Deutscher, kein Durchreisender, kein Schwerverbrecher, teilte Simmen Presse und Funk mit.
Einer von uns war es gewesen. Einer von uns hatte getötet.
Ein Gipser aus Mönthal, wohnhaft in Brugg, Vater von drei kleinen Kindern, 26, getrennt lebend, nicht geschieden. Mit seiner Geliebten, einer jungen Norwegerin, hatte er Stadelmann im Auto erschlagen, beraubt und von der Brücke zwischen Birmenstorf und Mülligen in die Reuss geworfen.
So beginnt ein Kapitel des neuen Buches «Revolverchuchi». Darin schildere ich einen Kriminalfall aus dem Jahr 1957: den Mord am Handelsreisenden Peter Stadelmann, bei seinem Tod 30-jährig.
Den Fall erzählte mir mein Schwiegervater am Weihnachtsessen 2017, noch vor dem Dessert. Zugetragen hatte er sich in seiner Jugend, im Kalten Krieg, als die Russen den Westen mit Sputnik und Laika schockierten, mit dem ersten Satelliten und einer Hündin im All.
Max Märki, der verheiratete Gipser, hatte sich in die norwegische Hilfsköchin Ragnhild Flater, 20, verliebt. Sie wollten nach Amerika auswandern. Geld hatten sie keines. Ausser Schulden besass Märki einzig einen Citroën Légère, eine schnittige schwarze Limousine, wie Gangster sie im Kino fuhren. Um die Flucht zu finanzieren, dachte sich Märki einen Chrampf aus. Er gab im «Aargauer Tagblatt» ein Lockinserat auf, eine Anzeige für einen Opel Rekord, den er nicht hatte. Stadelmann meldete sich, bereit, das Auto bar zu erstehen.
Das Paar lockte den ahnungslosen Händler in Baden in den Citroën, mit der Absicht, ihn mit dem Wagenheber bewusstlos zu schlagen, zu berauben und auszusetzen.
Das Dessert blieb stehen, die Erzählung des Schwiegervaters packte mich. Eine Parabel wie die Coen-Brüder sie im Spielfilm «Fargo» erzählen, allerdings alles wahr. Es geht um gewöhnliche Menschen, die ausbrechen wollen, dafür Geld brauchen, und die deswegen einen kruden Plan aushecken. Dieser misslingt, wie ihnen schon vieles im Leben misslungen war. Sie verlieren die Kontrolle, ein Mann stirbt.
Was für ein Reporterglück, eine solche Geschichte zu finden. Das ist ein Buch, wusste ich, bevor die Geschenke ausgepackt waren. Ein zeitloser Stoff aus einer vergangenen, aber nicht fernen Zeit. Aus dem Milieu der Generation meiner Eltern. Die Todesfahrt im Citroën begann in Baden, in der schmucken Limmatstadt, wo ich aufwuchs. Sie endete im Wasserschloss, im verworrenen Delta, wo drei grosse Schweizer Flüsse zusammenfliessen. Zuletzt ist es die Geschichte zweier Liebender, die zu Mördern werden, im Herzen der Schweiz, Bonnie und Clyde im Aargau.
Verschmitzt erzählte der Schwiegervater, was ihm besonders geblieben war: Ein Polizist hatte sich stümperhaft verhalten. Wenige Tage nach der Tat erkannte ein Betreibungsbeamter die Handschrift Märkis. Die Zeitungen hatten seine handschriftliche Vorlage für das Inserat publiziert. Der sofort alarmierte Polizist liess die Sache einfach schleifen.
Akten bis 2052 gesperrt
Online fand ich wenig zum Fall, einen Artikel von 1957 aus der «Schweizer Illustrierten», dazu die Prozessberichterstattung der NZZ von 1958. Ein Buch schreiben liesse sich wohl nur anhand der Gerichtsakten. Das Staatsarchiv des Kantons Aargau teilte mir mit, die Akten seien 80 Jahre nach dem letzten Eintrag gesperrt. Dieser war auf den 17. November 1972 datiert. Es sei denn, ich könnte belegen, Max Märki sei seit mehr als zehn Jahren tot.
Märki? Mein Deutschlehrer hiess so. Ist er verwandt? Nein. Aber er kennt Menschen aus der Region, und er führte mich zu einem pensionierten Polizisten, der mich zu Märkis betagtem Bruder brachte. «Ja, Max ist tot», sagte er, seit über 20 Jahren. Ein ehemaliger Gemeindeschreiber besorgte den Todesschein.
Das Aargauer Obergericht gab die Akten frei, mit Auflagen. Namentlich nennen dürfe ich nur Personen, die damals schon genannt wurden. Mündlich teilte man mir mit, es gelte vor allem, die Identität des dilettantischen Kantonspolizisten zu schützen.
Süsslich riechen alte, seit Jahrzehnten unberührte Akten. Sie lagen in sechs grossen Kartonschachteln auf dem Pult des Lesesaals des Staatsarchivs in Aarau. Lesen durfte ich sie, aber weder kopieren, noch scannen oder fotografieren. Zeile für Zeile schrieb ich ab, über 1500 Blatt Papier, während Wochen, täglich von 9 Uhr morgens bis 17 Uhr abends.
Es war atemberaubendes Kino im Kopf, erzeugt von akribisch verfassten Polizeiberichten, betörenden Verhörprotokollen, schwarz-weissen Fotos. Jeder der vielen Hiebe gegen Stadelmanns Kopf – zuerst von Märki verabreicht, dann von Flater – ist dokumentiert. Dazu die Gedanken des Täters während der Fahrt. Etwa wie Märki das Licht im Auto anmachte, den arg zugerichteten Passagier sah und just entschied, ihn ins Wasser zu werfen.
Der Obduktionsbericht legt offen, was Stadelmann ass am Tag, als er starb. Dass er ertrank, die Schläge aber kaum überlebt hätte. Er war fromm und hatte ein Geheimnis: In Deutschland wettete er auf Pferde, erhielt von der Bank dafür aber keinen Kredit mehr. Weil er neues Bargeld brauchte, begann er mit Autos zu handeln. Das kostete ihn das Leben. Zu erfahren ist das aus einer Befragung des Vizedirektors der Bankgesellschaft in Aarau.
Die Akten geben preis, wie sich die Täter nach der Tat wuschen. Wie sie ihm erklärte, Blut gehe besser mit kaltem als heissem Wasser aus. Wie Taucher der Zürcher Seepolizei in der Reuss die Leiche suchten. Wie das Liebespaar probierte, mit Hausmitteln ein Kind abzutreiben. Und wie Märki einen Monat vor dem Mord eine Frau erpresste, die in Luzern mit Seifenlauge Abtreibungen vornahm.
In Haft verfasste Märki einen Lebenslauf. Zusammen mit den Verhörprotokollen entsteht das Bild eines verletzlichen Menschen, vielschichtiger als der kaltblütige Killer, den die Zeitungen damals zeichneten. Seine Mutter liess ihn im Alter von drei Jahren am Waldrand stehen. Die Stiefmutter schlug ihn. In den Kriegsjahren sammelte er auf Feldern Ähren und verkaufte Bilder von General Guisan, damit die armengenössige Familie über die Runden kam. Verhöhnt wurde der Protestant im katholischen Dorf, in dem er wohnte.
Es gebe noch Akten aus der Strafanstalt Lenzburg, überraschte mich zuletzt die Archivarin. Dort waren Märki und Flater nach der Verurteilung vier Jahre gleichzeitig inhaftiert. Eine gepresste Blume findet sich in den Unterlagen. Sie hatte sie zu ihm geschmuggelt. Ebenso zahlreiche Briefe. Sie offenbaren eine Liebe, so tief, wie ein glücklicher Mensch sie bestenfalls einmal im Leben erlebt.
Ein Sachbuch? Ein Roman? Beides?
Was wird aus diesem Material? Ein Sachbuch? Ein Roman? Ein erzählerisches Buch sollte es sein, geschildert von einem Reporter, der einem Ereignis als neutraler Beobachter beiwohnt und ohne literarische Freiheiten berichtet. Einzig mit belegbaren Fakten sowie Zitaten und Gedanken, die sich aus Protokollen rekonstruieren lassen. Meteorologische Angaben – in der Mordnacht im Oktober 1957 regnete es in Strömen – stammen aus alten Wetterberichten. Um die Beschaffenheit der Natur abzubilden, die Verfärbung der Blätter im Wasserschloss, die Temperatur der Reuss, besuchte ich sämtliche Tatorte sowie die Fundstelle der Leiche an den Jahrestagen.
In den Handel kam das Buch am Tag, als die Buchläden wegen des Coronavirus schliessen mussten. Sämtliche Lesungen wurden abgesagt, darunter eine in der Strafanstalt Lenzburg. Der Schwiegervater ist an Covid-19 erkrankt. Derzeit wird er beatmet. Zuvor begann er noch, die «Revolverchuchi» zu lesen. Wenn er aus dem Koma erwacht, wird er die ganze Geschichte erfahren, die er mir geschenkt hat.