Eine Übung für die Zukunft

Lernen wir gerade für ein Dasein mit immer mehr Menschen auf engem Raum und weniger Ressourcen? Ein winziger Keim zwingt uns dazu, unser Leben zu verändern. Wir halten Distanz und fliegen weniger, arbeiten zu Hause statt im Büro, nutzen Lieferdienste und meiden Restaurants. Ist das sogar eine Chance für die Erde?

Von Peter Hossli und Carole Koch (Text) und Andrea Caprez (Illustration)

Arbeit
Flexibler, effizienter und gesünder
Es klingt wie eine Armeeübung: Bei der Credit Suisse wird in diesen Tagen die «Split Operation» eingeführt. Die Mitarbeiter des Rechtsabteilung werden aufgeteilt oder die Aktienhändler, alle Teams, ohne die das Bankengeschäft kollabieren würde. Die einen werden räumlich getrennt, die anderen bleiben zu Hause, gewechselt wird nach zwei Wochen. Die UBS hat schon vor Wochen damit angefangen, zuerst in Asien, dann in Grossbritannien und jetzt hierzulande. Beide Grossbanken grounden weltweit über 110000 Angestellte.

Geschäftsreisen werden nur in ausserordentlichen Fällen bewilligt. Dasselbe gilt für die Angestellten der Telecomfirma Sunrise, die ab Montag eine Testwoche im Home-Office durchführen, eine Abteilung nach der anderen. Bei der Zurich-Versicherung arbeitet bereits die Hälfte der Belegschaft zu Hause. Twitter empfiehlt Mitarbeitern auf der ganzen Welt Heimarbeit. Grössere Firmen bereiten sich auf den Ernstfall vor, Task-Forces erstellen Richtlinien und Notfallpläne.

Alles für den Fall des Totalausfalls. Willkommen in der neuen Arbeitswelt. Schön ist sie nicht, nein. Dabei kommen im Grunde gar keine neuen Modelle und Technologien zum Einsatz. Digitale Nomaden brauchen zum Arbeiten schon lange nicht mehr als Steckdose, Internet und Laptop. Beruf und Freizeit fliessen ineinander, und Bürozeiten von 8 Uhr morgens bis 17 Uhr wirken längst wie aus der Zeit gefallen. Trotzdem ist flexibles Arbeiten immer noch wenig verbreitet.

Bis Corona kam und Hunderttausende quasi von heute auf morgen dazu gezwungen werden. Ins Home-Office zum Beispiel, dem immer noch mit einer gewissen Skepsis begegnet wird, als ob auf dem Bürostuhl sitzen ein Garant für Effizienz wäre. Wer jenseits von Corona auf den Geschmack gekommen ist, hält es in Grossraumbüros nicht lange aus. Das Geschwätz, der Buzz, der Kollege, der furzt und meint, niemand merke es. Studien zeigen: Wer daheim arbeitet, ist oft konzentrierter, effizienter und zufriedener. Auch weil nicht gependelt werden muss. Dass die alltäglichen Völkerwanderungen in diesem Land die Menschen krankmachen können, ist bekannt. Im Stau stehen oder in überfüllten Trams, auf den Zug hetzen oder Streckenausfälle aushalten – was das bedeutet, kann mit einem Wort zusammengefasst werden: Stress. Rasender Puls, steigender Blutdruck, die körperlichen Reaktionen sind bei Pendlern messbar. So fällt die kleine Umfrage bei Leuten, die in der jetzigen Krise im Heimbüro erste Erfahrungen machen, durchwegs positiv aus: «Bin beeindruckt, wie sensationell das geht», sagt der eine, oder die andere findet es gut, dass Vorurteile gegen Heimarbeit abgebaut werden. Fazit: «Zeitsparend und CO2-neutraler.»

Konsum
Lokaler, langsamer und stiller
Schweizer mögen die Filme von Gianni Di Gregorio. Gestern hätte der italienische Regisseur in Zürich sein neustes Werk «Cittadini del Mondo» vorstellen sollen. Doch er blieb in Italien. Mit dem Publikum tauschte sich Di Gregorio über Skype aus. Ähnliches in Genf: Das Menschenrechtsfilmfestival sagte alle öffentlichen Vorführungen ab, überträgt aber 27 Debatten live online.

Das Coronavirus verändert, wie wir Güter und Dienstleistungen konsumieren. Anbieter improvisieren, damit sie noch Kunden haben. Kinobetreiber verkaufen maximal 150 Karten pro Vorstellung. Trotzdem beflügelt Corona einen Trend: weg vom Kino, hin zu Streamingdiensten. Wenig hilft da, dass die grosse Hoffnung der Branche – der neue Bond-Film – statt im April erst im November anläuft.

Statt mehr, globaler und schneller wird wegen des Virus lokaler, langsamer und weniger konsumiert. Die grossen Uhrenmessen und der Autosalon fallen aus. Marken wie ­Bulgari oder Breitling führen Ende April die Geneva Watch Days durch: kleine Events in Genfer Boutiquen und Hotels mit wenig Leuten. Autokonzerne stellen ihre neuen Modelle mit aufwendigen Webpräsentationen vor.

Da Kongresse ausfallen und Touristen fehlen, bleiben wohl viele Schweizer Hotelbetten bis Ende Juni kalt. Der Gastro-Unternehmer Michel Péclard sagte zu «Blick», er müsse Umsatzeinbussen von 20000 bis 30000 Franken pro Tag wegstecken. Online Essen bestellen floriert. Coop und Migros erzielen Rekordumsätze, insbesondere mit Hauslieferdiensten. Nicht nur, weil man sich für eine Quarantäne eindeckt. In viele Haushalte kehrt Gemütlichkeit ein: Man kocht selber, isst zusammen, kauft lokaler und saisonaler ein.

Derweil federn Industriefirmen Lieferengpässe ab, was sie auf eine mögliche Degloba­lisierung vorbereitet.«In einer Welt mit schlanken Lagerbeständen und ‹just-in-time›-Produktion ist man anfälliger geworden», sagt UBS-Chefökonom Daniel Kalt. Weltweit dürften viele Firmen ihre Lieferketten wegen des Coronavirus überprüfen und «allenfalls im Sinne einer breiteren geografischen Streuung anpassen», glaubt Swissmem-Chefökonom Jean-Philippe Kohl. «Der Grad der Globalisierung wird aber kaum abnehmen.» Es sei nicht möglich, alles in Europa herzustellen. «Das wäre zu teuer», sagt Kohl. Und: «Was, wenn das nächste Virus aus Europa kommt?»

Kritik an der Globalisierung wächst allerdings seit der Finanzkrise von 2008. Mit Trump regiert ein Protektionist im Weissen Haus. Zwischen Peking und Washington schwelt ein Handelskrieg. Sollte sich das Virus in Europa und in den USA wie in China ausbreiten, würde sich das Wachstum für das laufende Jahr halbieren, prognostiziert die OECD.

Mobilität
Virtuell reisen, grüner werden
Thomas Sauter-Servaes kämpft schon lange für mehr virtuellen Verkehr. Der Zürcher Mobilitätsforscher sagt Sätze wie «Pendeln ist viel zu billig». Oder er hält Skype-Vorlesungen, um zu zeigen, wie unnötig physisches Reisen oft ist. Jetzt sagt er: «Diese Krise kann zu einem Push führen.»

Ein Push für die Umwelt und gegen die Zunahme der Pendlerströme in Zeiten von Bevölkerungswachstum und Klimawandel. Vier Millionen Menschen pendeln hierzulande zur Arbeit, neun von zehn Erwerbstätigen. Dazu kommen 800000 Auszubildende, die von Daheim zu Schulen oder Universitäten fahren. Die Schweiz ist ein Volk von Pendlern und der Verkehr der grösste Klimasünder.

Die Coronakrise zwingt uns, diese Verhaltensroutinen zu brechen. Den physischen Verkehr einzuschränken, den virtuellen auszuprobieren. Das könnte langfristig zu einem umweltfreundlicheren Mobilitätsverhalten beitragen, das Infrastrukturen weniger belastet und ressourcenschonender ist. Aber nur dann, wenn die Erfahrungen mit neuen Techniken positiv sind und die Systeme bequem nutzbar. «Das ist die grosse Herausforderung», sagt Sauter-Servaes. Für Prognosen ist es zu früh. Man hört von halbleeren Zügen und soll nun auch den öffentlichen Verkehr während der Stosszeiten meiden. Die SBB haben noch keine Zahlen für eine «belastbare Bilanz». Anders die Swiss, die bis zu diesem Mittwoch 1600 Flüge storniert hat. Am Freitag kündete die Lufthansa-Gruppe an, die Kapazitäten ihrer Airlines in den nächsten Wochen um bis zu 50 Prozent zu reduzieren. Geht man von durchschnittlich 102410 Flügen pro Monat aus, könnten in vier Wochen 51205 Flüge betroffen sein. Der Branchenverband Iata schätzt den Schaden der Industrie für das laufende Jahr auf bis zu 113 Milliarden Dollar.

Der Verlust der Fluggesellschaften kann ein Gewinn für die Umwelt sein. Seit Jahren wird darüber debattiert, wie CO2-Emissionen ­gesenkt werden können. Dennoch wird ­weiterhin geflogen, als wäre die Bedrohung durch die Folgen des Klimawandels vernachlässigbar. In China sanken die CO2-Emissionen infolge des wirtschaftlichen Zusammenbruchs um 25 Prozent. Auch die Luftverschmutzung ging zurück. Die Nasa-Bilder des Landes wären in diesen Wochen braun, jetzt sind sie klar. Trotzdem beurteilt der ETH-Klimaforscher Reto Knutti den Effekt vorsichtig. Die Finanzkrise liess die globale Emissionskurve nur kurzfristig einknicken. Solange Krisen regional oder temporär sind, verzögert sich alles einfach, und der Einfluss bleibt klein. Das CO2 kumuliert sich langfristig in der Atmosphäre. «Für das Klima ist entscheidend, wie lange die Krise anhält und was wir daraus lernen», sagt Knutti.

Sozialverhalten
Solidarisch, distanziert, rücksichtsvoll
Leicht fällt es selbst dem Bundesrat nicht, Distanz zu wahren. Am Mittwoch riet Gesundheitsminister Alain Berset, anderen die Hand nicht mehr zu reichen, damit sich das Coronavirus Sars-CoV-2 langsamer ausbreite. Danach schüttelte er Heidi Hanselmann die Hand, der Präsidentin der kantonalen Gesundheitsdirektoren. Beide ernteten Spott. Es war eine Lektion.

Die Schweiz übt, Abstand zu halten, Hände zu waschen, in Armbeugen zu husten. Aufgrund staatlicher Empfehlung gewöhnen wir uns daran, die Wangen vor Küsschen zurückzuziehen. TV-Moderatoren legen die Hände am Schluss ihrer Sendung auf das Pult, statt sie den Gästen zu reichen. Und ein Bundesrat führt vor, wie schwer es ist, eingespielte Normen zu ändern.

Landesweit beschreiten wir öffentliche Räume neu: Man geht sich aus dem Weg. Und das ist nicht nur schlecht. Auf Rolltreppen wird weniger gerempelt. Beim Ein- und Aussteigen in Züge und Busse lässt man sich den Vortritt. Sogar Grapscher halten sich zurück.

Am hartnäckigsten hält sich ein Ritual, das zu unserer Kultur gehört und wiederholt Debatten über Integration auslöst: das Händeschütteln. Auf Zeichnungen von Höhlenmenschen existiert der Händedruck nicht. Die älteste Darstellung ist fast 3000 Jahre alt. Sie zeigt den assyrischen König beim Gruss des babylonischen Herrschers 850 v. Chr. Historiker erklären den Handschlag als pazifistisches Symbol: Wer die Hand zum Gruss hinstreckt, hält unter dem Gewand weder Dolch noch Revolver. Israelische Biologen glauben, der Händedruck habe im Zug der Evolution die tierische Eigenschaft des Beschnüffelns ersetzt. Viele Menschen würden mehrmals täglich an ihren Fingern riechen – vor allem nach dem Händedruck. Als «barbarischen Akt» bezeichnet das Donald Trump. Aus gesundheitlicher Sicht hat der Präsident recht: Über die Hände breiten sich Keime rasant aus. Es hat also sein Gutes, lernen wir derzeit, was Ärzte während der Grippesaison immer wieder raten: sich beim Grüssen nicht zu berühren.

Die auferlegte Distanz macht uns fitter für eine Welt mit mehr Menschen im urbanen Raum. «Wir werden näher zusammenleben und müssen gleichzeitig grössere Distanzen einhalten», sagt Immunologe Beda Stadler. Das social distancing verkleinere den Kreis der Menschen, denen wir nahe sind. «Kleine Gruppen sind resistenter auf Keime, die sie untereinander austauschen», sagt Stadler.

Gestärkt werde der Solidaritätsgedanke. Weichen sich junge und gesunde Menschen aus, tun sie das aus Rücksicht auf die gefährdeten Grosseltern. Und: Impften sich bisher vor allem Risikogruppen gegen die Grippe, erwartet Stadler höhere Impfbereitschaften bei Corona: «Aus Solidarität statt Selbstschutz.»