Keine Lust auf Sterne

Stephan Stalder, Küchenchef und Wirt des «Löwen» in Nänikon, verzichtet bewusst auf Gourmet-Sterne. Weil er lieber ein Cordon bleu brät, als Firlefanz aufzutischen.

Von Peter Hossli

Richtig kochen lernt er von italienischen Frauen. Damals, nach der Lehre, als Stephan Stalder im VW-Bus sieben Monate lang durch Italien fährt. Gegen Kost und Logis jobbt er in edlen und einfachen Ristoranti, schaut zu, wie Köchinnen arbeiten, in Ligurien, der Lombardei, der Emilia-Romagna. Wie sie Pasta machen und Focaccia backen. Sein Schweizer Kochhandwerk reichert er mit italienischer Kunst an.

Im selben Jahr, 1992, fährt er entlang der französischen Weinstrasse, liest Weintrauben, trinkt und isst in Bistros. Meist setzt sich der Zwanzigjährige allein an einen Tisch, bestellt eine Karaffe Roten und lässt sich vier Gänge servieren. «Durch das Essen bin ich ein besserer Koch geworden», sagt er.

Heute ist Stephan Stalder, 48, einer der besten Köche der Schweiz. Herausposaunen will er das aber nicht. Als er Ende 2019 eine zweimonatige Pause einlegt, gibt er bekannt, fortan auf Tester, ihre Punkte und die Sterne zu verzichten. Er lässt sich nicht mehr bewerten. Den «Löwen», den er seit über 20 Jahren in Nänikon bei Zürich führt und am nächsten Dienstag wiedereröffnet, wandelt er vom Gourmettempel zur währschaften Beiz. 10 Tische, 30 Plätze, untergebracht in einem sorgfältig renovierten Riegelhaus, 1780 erbaut. Davor steht ein Gewächshaus, in dem Stalder Samen für Kräuter zieht.

Neugier treibt den Koch an. Ein sanfter Mensch, der in der Küche stets Neues ausprobiert. Er kocht etwas, scheitert, macht es besser, scheitert erneut, bis es gut ist. Bis das Brot schmeckt, er den passenden Darm und die richtige Prise Salz für die Wurst findet.

Andere Spitzenköche haben ihr Signature Dish. Stalder hingegen ist bekannt für die Gerichte, die er zum ersten Mal kocht.

Sein Vater ist Drogist, er aber lernt Koch, weil ihm Düfte und Hektik in der Küche näher sind als Salben und Seifen. Mit 26 kauft Stalder den «Löwen» aus der Konkursmasse, ein heruntergekommenes Haus, in dessen Dachstock versteckt Revolver liegen. Mit seiner Frau Carmen, damals 19, lässt er es renovieren. 1999 geht das Restaurant auf. Ein Jahr später sitzt ein Tester von Gault Millau in der Gaststube. Aus dem Nichts erhält ­Stalder 14 Punkte, was ihn freut und den «Löwen» weitherum bekannt macht. Michelin nimmt ihn auf. Die Punktzahl steigt, auf 15, 16, im Jahr 2016 sogar auf 17 Punkte.

Für Stalder ist das ein Bruch. «Bei 17 Punkten habe ich mich nicht mehr wohl gefühlt, das ist eine andere Liga, da geht es in den Luxus, und das haben ich und meine Frau nie gewollt.» Das «Drumherum», wie er sagt, sei bei 17 Punkten wichtiger als das, was er kochen möchte. Vor dem ersten Gang müsse er drei Amuse-Bouches servieren. Nichts mehr scheint gut genug. Legt er auf Curry-Kutteln etwas Pulpo, dazu asiatisch angehauchte Crostini mit Avocado, Frischkäse und eingelegten Zwiebeln, schätzen die Tester das als Eintopf gering. Will er die hohe Bewertung halten, bestimmen zunehmend sie, wie er kocht. Und das widerstrebt Stalder. «Ich bin nicht selbständig geworden, damit man mir etwas diktiert.»

Punkte und Sterne bergen unternehmerische Risiken. Zwar ist das Lokal des neuen Kochs des Jahres nach der Wahl jeweils ein halbes Jahr lang ausverkauft, weil jeder Foodie sofort dort essen muss. Verblasst der Glanz, bleiben Stühle und Tische oft leer – da anderen Gästen diese Küche überkandidelt und affektiert vorkommt. «Man erhält neun verrückte Sachen und weiss nachher nicht mehr, was man gegessen hat», sagt Stalder. «Die Sterne-Gastronomie ist berechtigt, aber sie ist nicht unsere Welt.» Ihm fehlen Mäzen und Hotel, mit denen er drei- bis vierstündige Programme querfinanzieren könnte.

Er hat Lust, wieder mal ein Cordon bleu zu braten. Nicht immer nur die besten und teuersten Schnitte will er auftischen, sondern ein Rind von der Nase bis zum Schwanz verwerten. «Es gibt zweitklassige Stücke, die sind zwar weniger zart, schmort man sie lange, können sie schmackhafter sein als ein Filet.» Eier nimmt er vom Bauern nebenan, das Kalb- und Schweinefleisch kommt aus Ställen, die er kennt. Da er nun günstiger einkauft, kann er die Preise senken.

Etwas bleibt im neuen «Löwen» beim Alten: Seine Frau empfängt vorne die Gäste, er bleibt in der Küche. «Ich bin kein Starkoch, der sich zeigen muss», sagt er. Da er bis zum letzten Dessert alles selbst zubereitet, habe er keine Zeit für Smalltalk. Die typische Frage vieler Köche – «hat es Ihnen gemundet?» – mag er nicht. «Wenn es nicht schmeckt, schicke ich ein Menu sicher nicht raus.»