Der versehrte Pfarrer

Andreas Cabalzar, Seelsorger an der Zürcher Goldküste, hält heute seine erste Predigt nach einem Skiunfall. Im Rollstuhl. Der Paraplegiker hofft, ein besserer Pastor zu werden.

Von Peter Hossli (Text) und Bruno Muff (Illustration)

Mit ausgestreckten Armen zeichnet der Pfarrer einen Kreis in die Luft. «So klein war meine Welt geworden.» Als er aus dem Vollen ins Nichts geklatscht sei.

Andreas Cabalzar, 57, sitzt in einem Rollstuhl am Esstisch und erzählt. Auf dem Kopf eine Mütze, wie sie Mafiosi in Sizilien tragen. Sein Haar habe sich infolge des Unfalls komisch verfärbt und dazu könne er noch nicht ganz stehen. Vor gut einem Jahr, am Freitag, 28. Dezember 2018, ist er beim Skifahren auf den Rücken gefallen. Am Sonntag darauf konnte er nicht predigen, da er querschnittsgelähmt im Paraplegiker-Zentrum in Nottwil lag. «Nur noch dumpf» seien seither seine Empfindungen unterhalb der Brustwarzen. Ziemlich sicher werde er nie mehr gehen.

Er, der selbstbeschriebene «Autonomiefreak», sah sich bereits im Helikopterflug von der Piste ins Spital der Autonomie beraubt.

Zwölf Monate später blickt er vom Wohnzimmer auf den Zürichsee, vor ihm ein Notizblock mit Gedanken zu seinem Comeback. Heute Sonntag predigt Cabalzar in der reformierten Kirche von Erlenbach erstmals wieder seit dem Unfall. Nicht als erster, aber als derzeit einziger Seelsorger der Schweiz, der sein Amt in einem Rollstuhl ausübt.

Der Bündner wächst in Zürich auf, im Niederdorf, wo er als Bub sieht, wie sich die einen bei rotem Licht vergnügen, andere zu viel trinken oder Drogen erliegen. «Kinder der Bonzen», fällt dem Pfarrerssohn auf, gelangen von der Goldküste in die Stadt und betäuben sich hier mit verbotenen Stoffen.

Nach der kaufmännischen Lehre arbeitet er ein paar Jahre an der Börse, weil er merkt, wie sein älterer Bruder, ein Banker, in der Welt herumkommt, in Paris, London, New York. Sinn findet er im Geschäft mit dem Geld nicht. Nach einem verlorenen Handballspiel entscheidet er sich, 23-jährig, noch in der Dusche, die Matura nachzuholen, um Theologie zu studieren. Er absolviert das Vikariat in Zürichs St. Peterskirche und tritt 1993 in Erlenbach seine bisher einzige Stelle als Pfarrer an. Was bewirkte er? «Fragen Sie mich, was Erlenbach mir ermöglicht hat!»

Kanzel und Seelsorge reichen ihm nicht. Nach der Schliessung der offenen Drogenszene am Platzspitz hilft er Süchtigen der Goldküste, den Kindern der Bonzen. Als vier Männer, die er einst traute, ihm gleichzeitig ihre quälenden Scheidungen schildern, baut er ein Männerhaus auf. Im Pfarrhaus beherbergt er Jugendliche. Eine junge Frau nimmt sich das Leben, was Cabalzar veranlasst, betreute Wohnformen für depressive Teenager anzubieten. Steht eines seiner Projekte, zieht er weiter. Das passt zu seinem rastlosen Wesen. Er lebt, liebt, tanzt, malt, spielt, treibt Sport, hat drei Kinder, trennt sich, liebt wieder. Vier Stunden Schlaf reichen ihm.

Bis im Schnee alles stoppt. «Peng», sagt er.

Vier Monate schwebt er im Spital auf einer Morphiumwolke. Wie vom Hammer getroffen erwacht er, als die Ärzte das Opiat absetzen. Statt mit Gott zu hadern, gibt er sich «dem Schicksal total hin, um in der Brutalität wieder Perspektiven zu finden». Gerettet habe ihn die Begegnung mit einer Frau. Mit einer Pariser Ärztin aus Genf, die wie er im Rollstuhl sitzt und in den Alpen verunfallte.

Jeden Abend treffen sich die beiden in der Klinik zur Andacht, reden über «den Widersinn des Tages», wie schwierig es ist, zu pinkeln, vom Bett in den Rollstuhl umzusteigen, den versehrten Körper auszuhalten. Sie bringen einander Musik mit, Klassik, Jazz, Blues, lesen Geschichten und Gedichte, deutsche und französische Philosophen. Da sie kein Deutsch spricht, verbessert er sein Französisch. Bewusst fällt der Entscheid, sich nicht ineinander zu verlieben. «Wir fanden ein Fenster zum Leben», sagt Cabalzar, «und haben überlebt, weil wir einander haben.»

Zusammen reisen sie nach Barcelona, rollen zu zweit über die Ramblas.

Cabalzar richtet sich sein Leben neu ein, verlässt das Pfarrhaus, da elf Zimmer, Seeanstoss und Garten sich nicht eignen für den Rollstuhl. Er bezieht eine Dachwohnung mit Lift, beginnt im Hallenbad zu tauchen. «Unter Wasser fühle ich mich zeitweilig nicht mehr versehrt.» Dort spüre er den Körper und höre «rauschende Stille». Im Sommer will er im See tauchen, schon bald im Meer. Ein Gewinn sei, dass vieles langsamer gehe.

Bewusst lässt er die Kirche nicht anpassen. Nichts dürfe im Andachtsraum an sein Leid erinnern, nichts die Trauernden stören, denen er Trost zu spenden habe. «Vielleicht werde ich jetzt ein besserer Pfarrer. Einer mit vertiefter existenzieller Erfahrung.»