Die fragwürdigen Tricks der Hilfswerke

Jedes Schicksal zählt: Hinter dem Spendensammeln im November und Dezember steckt eine ausgeklügelte Logistik und viel Psychologie. Schweizer Hilfswerke erhöhen ihre Erträge mit gestellten Fotos und erfundenen Geschichten. Darf man das?

Von Peter Hossli

Suri ist zu bedauern, nein: zu bemitleiden. Wie kärglich doch das Dasein, das sie in Pakistan fristet! Vor Hunger schmerzt der Magen. Um ihre Not zu lindern, isst die Fünfjährige feuchte Erde. «Was soll ich sonst essen?», fragt sie. Aus einem schmutzigen Gesicht starren ­tränennasse Augen ins Leere.

Sie verzehrt Pappe statt Brot, wissen Hunderttausende von Schweizern, denen Terre des hommes im November einen von Suri angeknabberten Karton heimgeschickt hat. Darauf schildert das Lausanner Kinderhilfswerk das herzbewegende Los des hungrigen Mädchens. Detailreich wird erzählt, «was Kinder essen, wenn sie nichts zu essen haben». Eine hohle Hand ist abgebildet, gefüllt mit Dreck. Suri scheint im Begriff, ihn zu verschlingen.

Wer dem Kind helfen möchte, kann das bequem mit dem aufgeklebten Einzahlungsschein tun, mit einer Spende von 30, 50, 100 oder noch mehr Franken.

Der Karton von Terre des hommes ist einer von rund drei Dutzend Sammelbriefen, die in der besinnlichen Adventszeit verschickt werden. Suris Schicksal ist erfunden – wie viele andere. Was schwächere Augen kaum erkennen, steht in weisser 6-Punkt-Schrift auf der Foto, die Suri zeigen soll: «Name und Foto geändert.» Gemacht hat das Bild Jean-Marie Jolidon – vor dreizehn Jahren. Er habe 2006 in Pakistan fotografiert, erzählt er. War das Mädchen damals fünf, wäre es mittlerweile achtzehn und ungeeignet als Kinder­model für die Werbung eines Hilfswerks. Ob sie weiss, dass sie in der Schweiz ein Karton essendes Mädchen gibt? «Ich habe ihr damals gesagt, dass ich sie für Terre des hommes fotografiere», sagt Jolidon.

Entwicklungshilfe ist nicht einfach. Zusammenhänge sind komplex, die Realität nie nur schwarz und nie nur weiss, sondern stets grau. Deshalb setzen Hilfswerke in ihren Sammlungen selten auf Fakten. Wie in jeder guten Werbung schieben sie Kunstfiguren vor.

Es sind Charaktere wie aus Reportagen des deutschen Fälschers Claas Relotius. Auf den ersten Blick durchaus plausibel, aber erfunden, um möglichst runde dramatische Geschichten auszumalen. Als hätte ein Drehbuchautor sie ersonnen. Sie trennen Gut von Böse und sind Träger einfacher Erklärungsmuster. Stimmig greifen Ursachen und Wirkung ineinander. Unverzügliche Lösungen liegen nahe: Spendet, dann geht es diesem Kind, dieser Blinden, diesem Alten besser. Ein paar Franken, und Suri isst eine Schale Reis. Ein Happy End, wie aus Hollywood. Wir zählen darauf, dass die dargestellten Schicksale wahr sind. Dass die Darsteller zwar höllische Odysseen durchleiden, aber tapfer kämpfen, bis sie gerettet werden. Und zwar von uns.

Jede Rettung trägt ein exaktes Preisschild. Für 50 Franken schützt der WWF während eines Jahres einen Quadratkilometer Regenwald. Terre des hommes alphabetisiert für 50 Franken fünf Kinder. Wer Unicef 77 Franken überweist, ermöglich einem Kind «therapeutische Spezialnahrung für 8 Wochen».

Das Gebiss der Heilsarmee
Detailreichtum und präzise Zahlen suggerieren Authentizität. Wie die Traumfabrik in Kalifornien werfen Hilfswerke aber Leimruten aus. Um zu sammeln, befeuern sie Trauer und Mitleid. Einige der Zeugnisse wirken grenzwertig. Vorletztes Jahr warb die Heilsarmee in einem Fernsehspot mit einem Randständigen, der alle Zähne verloren hatte. Einen Zahnarzt leisten kann er sich nicht. Um etwas zu essen, reicht ihm ein Heilsarmist sein eigenes Gebiss. Darf man, um Geld zu sammeln, eine Randgruppe so menschenverachtend blossstellen?

Eine Frage, die sich auch Terre des hommes gefallen lassen muss. 2017 bildete das Hilfswerk auf dem versandten Karton «Indira, 6 Jahre alt» ab. Die Kleine aus Indien habe «keine andere Wahl, als Erde zu essen». Mitleid erweckend blickt ein Mädchen in die Kamera. Eine Bildrecherche mit den Begriffen «Indian», «Girl», «Sad» führt einen bei der Bildagentur Alamy zur Foto, die Terre des hommes mit «Indira» anschreibt. Für den Gebrauch in einer Marketingkampagne berechnet Alamy für das Bild 44 Euro und 99 Cents.

Auf Twitter darauf angesprochen, reagierte das Hilfswerk damals gereizt. «Das Ziel dieser Kampagne ist es, Mittel zu sammeln, um Kinderhilfsprojekte zu unterstützen.» Man habe dank Spenden «drei Millionen Kindern und deren Angehörigen» helfen können.

Dann heiligt der Zweck die Mittel? Oder ist das Gewerbe der Helfer eine Branche wie jede andere, global und gewinnmaximiert? Weltweit bemühen sich zehn Millionen Hilfswerke um Spenden. Akzeptieren wir ihre anrüchigen Sammelmethoden, weil darauf Gutes folgt?

Um die Privatsphäre der Kinder zu schützen, «benützen wir eine gestellte Foto und einen Fiktivnamen», führte Terre des hommes aus. Indiras Los entspreche dem Alltag «Hunderter anderer Kinder». Als ob alle indischen Mädchen und Buben stets Gleiches erlebten.

«No Model Release», steht als Vermerk im Katalog der Agentur. Das bedeutet: Das Mädchen, mit dem Terre des hommes als «Indira» wirbt, hat dazu nie eine Einwilligung gegeben. Missachtet ein Kinderhilfswerk die Persönlichkeitsrechte einer Minderjährigen?

Die Kartons seien «ausgesprochen erfolgreich», betont eine Terre-des-hommes-Sprecherin. Bei Werbung setze man «zu ihrem Schutz» nie reale Figuren ein. Ob zumindest das abgebildete Händchen der 2006 foto­grafierten «Suri» gehöre, «können wir nicht ­sicher sagen». US-Hilfswerke kommunizieren bewusst nicht mit Fotos, die älter als zwei Jahre sind.

Als «nicht in jedem Fall problematisch» erachtet Zewo-Geschäftsleiterin Martina Ziegerer nachgestellte Beispiele. Die Organisation stellt für Hilfswerke ein Gütesiegel aus. Sie überprüft, ob die Hilfswerke zweckgebunden sammeln. «Die Geschichten müssen jedoch realistisch sein», sagt sie. «Die Inhalte dürfen nicht übertrieben oder konstruiert sein. Es wäre ein Verstoss gegen unsere Vorschrift, sachgerecht zu ­informieren.»

Schweiz an der Spitze
Hilfswerke wissen: Schicksale rentieren. Emotionale Geschichten erzielen höhere Sammelresultate als reine Fakten. Es reiche nicht aus, Probleme sachlich darzustellen, sagt Felizitas Dunekamp, Vizepräsidentin des Verbandes Swissfundraising. «Eine gute Geschichte holt die Menschen besser ab.» Storytelling wirkt.

Und es öffnet die Geldbeutel. Schweizerinnen und Schweizer sind spendierfreudig, sie geben mehr als ihre Nachbarn. Je nach Studie spenden hierzulande zwischen 74 und 84 Prozent der Erwachsenen. In Österreich sind es 60 Prozent, in Deutschland bloss 24 Prozent. Letztes Jahr haben Schweizer Hilfswerke 1,812 Milliarden Franken an Spenden eingetrieben. Die Hälfte floss an Organisationen, die im Ausland helfen. Zwei von drei Franken spenden private Haushalte, hat die Universität Freiburg errechnet. Über 99 Prozent des Geldes erhalten Hilfswerke mittels Überweisung von Bank- oder Postkonten. Nur 0,2 Prozent fliessen an Standaktionen bar zu. Eine Sammlung kostet im Schnitt 8 Prozent des Ertrags, dazu kommen 13 Prozent Verwaltungskosten. Rund 80 Prozent kommen Bedürftigen zu.

Spenden sei ein zentraler Teil der Schweizer Kultur, sagt Georg von Schnurbein, Professor für Stiftungsmanagement an der Universität Basel und Direktor des Center for Philanthropy Studies. «Schweizer wollen die Hilfe nicht einfach dem Staat überlassen.» Kinder würden in diese Spenderkultur hineinwachsen, verkauften Schoggitaler und Briefmarken und machten beim Panda-Club des WWF mit.

Wer wann sammelt, legt die Zewo jeweils ein Jahr im Voraus fest. Ein Spendenkalender bringt Ordnung in ein Gerangel von 40 Hilfswerken, die je mindestens 5 Millionen Franken sammeln. Die Zewo teilt sie in drei Kategorien ein: Ausland, Gesundheit, Tier und Natur. Pro Kategorie ist ein Mailing pro Woche erlaubt, also maximal drei Briefe wöchentlich.

Populär sind die Termine im November und Dezember. «Zum Jahresende denken viele über ihr Jahr nach», erklärt von Schnurbein. «Fiel es positiv aus, danken sie anderen.» ­­Traditionell sei Weihnachten mit Schenken verbunden. «Ende November erhalten viele das 13. Monatsgehalt, sie haben mehr Geld zu Verfügung und können etwas abgeben.» Und vor Jahresende ist die eine oder der andere auf der Suche nach einem sinnvollen Steuerabzug.

Wer seine Gabe auf zu viele Hilfswerke verteile, verwässere die Wirkung. Es sei sinnvoller, 100 Franken zu spenden als zehnmal 10 Franken. «Die Kosten der Spenden nehmen mit der Höhe proportional ab», sagt von Schnurbein. «100 Franken zu sammeln, kostet 10 Franken, bei 10 Franken sind es 3.»

Ein fiktiver Suizidversuch
Ergreifend, was Pro Juventute vor Weihnachten zu berichten hat. Die Stiftung für Kinder- und Jugendrechte verschickte einen mit Sternchen dekorierten Bleistift, daran festgemacht ein Radiergummi in der Form eines Schmetterlings – eindeutig der Stift eines ­Teenies. Dazu ein scheinbar von Hand verfasster Brief von Johanna. «Liebes 147gi», schreibt sie an das Beratungstelefon der Pro Juventute. Zwischen Herzchen steht in roter Schrift: «Im Frühling habt ihr mir das Leben gerettet.» Sie suggeriert einen Suizidversuch. «Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe. Dank euch gehe ich heute jede Woche zu einer Therapeutin.» An einer neuen Schule habe sie Freundinnen gefunden, «und zwar richtig tolle, wo zu mir halten und mega nett sind.» Johanna teilt Intimes mit: «Das Beste ist, dass ich seit zwei Wochen einen Freund habe.» Er heisse Felix. «Jetzt freue ich mich über das Leben. Und ich bin so froh, dass ich das alles erleben darf.»

An den aufwühlenden Brief ist mit einer gedruckten Büroklammer ein Bild geheftet, auf dem ein Mädchen spitzbübisch in die Kamera strahlt. Das blonde Haar trägt sie zerzaust.

Wer den Brief gelesen und in die fröhlichen Augen Johannas geblickt hat, liest unten an der Seite, klein gedruckt und kaum lesbar: «Dieser Brief ist fiktiv und steht stellvertretend für Zuschriften, die wir von jungen Menschen erhalten. Zu deren Schutz haben wir die Foto nachgestellt.» Johanna gibt es nicht, obwohl Handschrift und die süsse Foto das Gegenteil suggerieren. «Unsere Beratung ist vertraulich», wehrt sich der Pro-Juventute- Sprecher. «Es ist für uns nicht möglich, reale Beratungsbeispiele zu schildern.» Die nacherzählten Geschichten seien mit Fachpersonen abgesprochen, sie entsprächen dem Alltag. Er fügt an: «In der Werbung ist es aber schwierig, mit komplexen Botschaften oder Statistiken die Menschen zu berühren.»

Als «eher problematisch» beurteilt Professor von Schnurbein die computergenerierte Handschrift. «Technisch ist heute vieles möglich, man muss sich allerdings fragen, wie weit man moralisch-ethisch gehen kann.» Von Schnurbein versteht, dass wegen des Personenschutzes die Fotos und die Namen verändert werden. «Aber es ist heikel, wenn zu stark auf die Tränendrüse gedrückt wird.» Das aktuelle Medienumfeld verlange jedoch von Hilfswerken, «dass man etwas überzeichnet, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Ohne emotionalen Appell kommt man nicht weit.» Seit Jahren steige der Druck, da öffentliche Gelder für Hilfswerke versiegten. Der Datenschutz habe es erschwert, neue Adressen zu erhalten, was die Akquisition neuer Spender verteuert.

Die Rücklaufverstärker
Die Hilfswerke setzen auf Kniffs, die erwiesenermassen höhere Spenden abwerfen. Noch wirksamer als rührselige Geschichten sind kleine Geschenke. Kugelschreiber. Kalender. Filztaschen. Beigelegter Krimskrams, den ­gefühlt 99 Prozent der Briefempfänger nicht brauchen und wohl wegwerfen. Dessen Zweck besteht darin, Spenderherzen zu öffnen. «Geschenke erzeugen Gegengeschenke», sagt von Schnurbein. «Vor allem bei Senioren kommt das gut an.» Keine Altersgruppe spende mehr.

Bewusst nehmen Hilfswerke die Müllberge in Kauf. Unlängst verschickte der Schweizerische Zentralverein für das Blindenwesen eine Schweizer Landkarte, obwohl man sich heute mit Smartphones zurechtfindet.

Statt die Richtung anzuzeigen, appelliert die Karte an das schlechte Gewissen. Sie zurückzuschicken, wäre umständlich. Statt sie wegzuwerfen – sie kommt ja von Blinden -, spendet man etwas, legt sie bis zum Frühlingsputz beiseite und entsorgt sie zuletzt im Altpapier.

Es wirkt wie der mittelalterliche Ablasshandel, bei dem die katholische Kirche ihre Gläubigen einschüchterte, ihnen aber Erlösung anbot: «Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt», versprach im 16. Jahrhundert der Dominikaner-Pater Johann Tetzel. Mit dem Heilsversprechen sammelte er grosse Summen für den Bau des Petersdoms.

«Rücklaufverstärker» nennt die Branche die Beigaben. Katalysatoren, die den Rücklauf verstärken, also mehr Geld bringen. Tests haben ergeben: Bei gleichen Briefen mit und ohne Geschenk fällt der finanzielle Rücklauf mit Verstärker stets höher aus. «Darauf zu verzichten, lohnt sich nicht», erklärt Felizitas ­Dunekamp von Swissfundraising. Sie betont aber, Organisationen würden vermehrt darauf achten, nützlichere Geschenke beizulegen.

Rote Tannenbäumchen und weisse Schneeflocken verzieren ein Jutesäckchen, das die Heilsarmee einem Sammelbrief beilegt. Der Brief erzählt von Eduard, «dessen Leben von einem Tag auf den anderen aus den Fugen geraten ist». Berufsmusiker sei er gewesen, 58 Jahre alt, bei einem Unfall in Italien kamen zwei seiner Musikerkollegen ums Leben. Das Quartett zerbrach, er verlor den Job und den Anschluss zu anderen Menschen. Seine Frau erkrankte, das Paar trennte sich. «Ohne Arbeit landete er beim Sozialdienst und zuletzt bei der Heilsarmee», wo er, «psychisch am Ende», im Rollstuhl ankam. Doch im Wohnheim fand er sich zurecht. Heute musiziert er wieder.

Existiert Eduard? Ja. Zwar zeigt das Bild ein Model. Die Heilsarmee vermittelt aber eine Handynummer. Es meldet sich ein Tiroler, der im Wohnheim in Basel lebt. Er nennt seinen echten Namen, erzählt, wie sein Schwager ihn betrogen habe, was ihn aus der Bahn warf. Genau wie besagter Autounfall, der ein paar Jahre zurückliegt. Journalistischen Standards genügt die Darstellung im Sammelbrief zwar nicht. Aber letztlich ist es Werbung. In dieser Branche erzählt man alles ein bisschen freier.