“Das Modell Twitter hat sich totgelaufen”

SP-Nationalrat Cédric Wermuth sagt, welcher Schweizer Politiker der beste Trump auf Twitter ist – und warum dem Aargauer eine amerikanische Agentur hilft, Wahlkampf zu betreiben.

Von Peter Hossli (Text) und Jessica Keller (Foto)

Foto: Jessica Keller, 02.08.19. Marco Kistler (r.) und Cédric Wermuth.

Der Aargauer SP-Nationalrat Cédric Wermuth (33) kandidiert im Herbst für den Ständerat. Er hat Politik­wissenschaften, Wirtschafts- und Sozialgeschichte und Philosophie studiert. Zwischen 2008 und 2010 präsidierte er die Juso.

Der ehemalige Glarner SP-Landrat Marco Kistler (34) war Kampagnenleiter und Erfinder der 1:12-Initiative. 2015 leitete er den Basiswahlkampf der SP. Heute führt er in Winterthur ein Büro für politische Kampagnen. Zu seinen Kunden gehört Cédric Wermuth.

Herr Wermuth, welcher Schweizer Politiker ist auf Twitter der beste Trump?
Cédric Wermuth: Claudio Zanetti von der SVP. CVP-Präsident Gerhard Pfister ist der unvorhersehbarste. Twitter ist aber über­bewertet und vor allem ein Selbstbeschäftigungsprogramm für Politikerinnen und Journalisten …

… also Menschen wie Sie?
CW: Ja, sicher. Im Gegensatz zu den USA spricht Twitter in der Schweiz aber nur einen kleinen inneren Kreis an.

Donald Trump provoziert und erhält dadurch Aufmerksamkeit. Sie sind in den letzten Monaten etwas leiser geworden. Warum?
CW: Das Modell von Twitter hat sich totgelaufen. Der Versuch, sich dort ernsthaft politisch auseinanderzusetzen, ist gescheitert. Zudem sind einige meiner Tweets aus dem Kontext gerissen in anderen Medien zitiert worden. Gelernt habe ich: Es ist besser, weniger zu machen. Die Fallhöhe ist gross.

Unlängst twitterten Sie, die «europä­ische Abschreckungspolitik ist Mord» – eine happige Provokation.
CW: Leider eine nüchterne ­Fest­stellung von Tatsachen.

Sie schreiben, das sei «politisch gewollt», dann wären europäische Politiker Mörder …
CW: … ja, das stimmt.

Ein Mörder ist man in einem Rechtsstaat erst durch eine Verurteilung.
CW: Okay, einverstanden. Würde sozialdemokratische Politik nicht wehtun, wäre es keine sozialdemokratische Politik. Es geht um das Hinterfragen von Selbstverständlichkeiten. Die Reduktion auf 280 Zeichen zwingt einen, zugespitzt zu kommunizieren. Dadurch wächst die Chance, dass eine Aussage aufgenommen wird. Äussere ich mich auf Twitter zur europäischen Flüchtlingspolitik, soll sich das verbreiten.

Lassen sich Twitter-Provokationen in Stimmen umwandeln?
Marco Kistler: Es ist ein schmaler Grat. Aufmerksamkeit kann Stimmen bringen – oder einen totalen Verriss.

CW: Wer auf Twitter provoziert, muss die Provokation verteidigen können. Ist eine Aussage billig, kann sie zum Bumerang werden.

Was raten Sie SP-Politikern?
MK: Möglichst authentisch zu sein, sich in den sozialen Medien nicht zu verändern und die eigene Person nicht zu verstecken.

Welcher digitale Kanal ist für die SP der wichtigste?
MK: Wahrscheinlich E-Mail. Dort erreichen wir die Wählerinnen und Wähler am direktesten.

CW: Noch wichtiger ist direkter Kontakt. Die Schweiz ist klein genug. Auf den Visitenkarten, die ich verteile, steht meine private Mobiltelefonnummer.

Digitaler Wahlkampf wird überschätzt?
CW: Vor acht Jahren habe ich behauptet, in den sozialen Medien werde eine Wahl weder gewonnen noch verloren. Heute ist der digitale Einfluss höher. Allein online aktiv zu sein, reicht aber nicht. Trump ist nicht wegen einer Datenbank gewählt worden. Seine Botschaft passte, und er hat sie auf verschiedenen Kanälen richtig vermittelt.

Linke Parlamentarier sind in den sozialen Medien erfolgreicher als bürgerliche, haben mehr Follower. Warum?
CW: Die Bürgerlichen sagen: Wir haben sonst nichts zu tun (lacht).

MK: Die Linken sind darauf angewiesen, auf Menschen zuzugehen, in der realen Welt wie in den sozialen Medien. Uns ist es nicht möglich, einen Kreis von 100 mächtigen Männern aufzubauen.

Herr Wermuth, Sie haben über 47 000 Follower auf Twitter, der St. Galler FDP-Ständeratskandidat Marcel Dobler 2100. Weil er Unternehmer ist und Sie Berufspolitiker?
CW: Schaue ich mir die Kampagne von Herrn Dobler und der FDP an, frage ich mich, was er neben Politik macht. Ich bin kein Berufspolitiker, aber ich hätte mit der Bezeichnung keine Mühe. Wir haben zu wenig Geld, um den Kanton Aargau mit Inseraten und Plakaten zu fluten. Deshalb sind wir stärker auf soziale Medien angewiesen.

Als erste Schweizer Partei setzt die FDP auf Mikrotargeting. Aufgrund von Daten weiss sie, in welchen Gemeinden die Partei noch Potenzial hat. Wie kontert die SP das?
MK: Wir haben in vielen Gemeinden Menschen, die besser wissen als der Algorithmus des GfS, wo die Wählerinnen und Wähler leben. Menschliche Intelligenz bringt mehr als ein Datensatz.

CW: Mir widerstrebt ein Politikmodell mit Mikrotargeting. Es dreht Prioritäten um. Man nimmt die Vorlieben von Menschen und geht mit einem Angebot auf sie zu. Aber ich verkaufe nicht Mars oder Snickers. Ich bin von etwas überzeugt und versuche andere davon zu überzeugen. Mikrotargeting bewirkt, dass man nur noch innerhalb der eigenen Blase mit Menschen redet.

Mit der Digitalisierung von Wahl­kämpfen wächst weltweit der Einfluss ausländischer Akteure. Wie gross ist er auf die Schweizer Politik?
CW: Der wahre Skandal ist, dass sich die Russen nicht für unsere Wahlen interessieren. Spass beiseite: Es hat nicht zugenommen, es wird durch die sozialen Medien offensichtlicher.

MK: In der Schweiz wissen wir es nicht. Hier sind Dinge in der Politik legal, die andernorts als korrupt gelten.

Warum lassen Sie Ihren Wahlkampf aus dem Ausland beeinflussen?
CW: Mache ich das? Von wo denn?

Sie haben eine Agentur in New York, die für Sie Wahlkampf macht.
CW: Moment! Wir haben zusammen mit der Agentur Tandem eine grafische Sprache entwickelt, die wir in der Schweiz umsetzen.

Ihnen genügt Schweizer Know-how nicht?
CW: Aus den USA kommen die Ideen für den digitalen Wahlkampf. Ebenso haben wir versucht zu verstehen, was grafisch für Amerika funktioniert. Daraus lernen wir.

Sie geben sich als Globalisierungs­gegner und setzen sich für den Erhalt von Schweizer Arbeitsplätzen ein. Ist es nicht heuchlerisch, eine US-Agentur zu beschäftigen?
CW: Es geht um Know-how-Transfer – und eine Zusammenarbeit unter jungen, progressiven politischen Bewegungen weltweit. ­Bezüglich Sprache und Ästhetik gibt es nichts Vergleichbares in der Schweiz. Politische Werbung in der Schweiz ist eher langweilig.

Es gibt unzählige coole Schweizer Design-Agenturen.
CW: Ja, Aargauer Grafikerinnen und Grafiker setzen um, was wir mit New York erarbeitet haben.

Politisch darf man globalisieren, nicht aber wirtschaftlich?
CW: Es geht nicht gegen die Globalisierung, sondern um eine andere Art als die neoliberale. Die grosse Herausforderung der Linken im 21. Jahrhundert ist es aber, eine Antwort auf die internationale Frage zu finden. Was in der amerikanischen Politik geschieht, ist für uns wichtig.

Was Ihnen zum echten US-Wahlkampf fehlt: Sie zeigen Ihre Familie in den sozialen Medien nicht.
CW: Politische Berater schlagen mir das immer wieder vor. Aber das wird nicht geschehen. Das haben meine Partnerin und ich bewusst entschieden. Und meine Kinder sollen später selber entscheiden, ob sie zum Erbe ihres Vaters stehen wollen. Dieses Erbe ist ja nicht ganz unproblematisch.

Zur US-Politik gehört Transparenz bei den Finanzen. Wie viel geben Sie für Ihren Wahlkampf aus?
CW: Das sage ich ­Ihnen, sobald ich es weiss.

Eine kluge Ausrede, Transparenz zu umgehen.
CW: Wir sind mit einem geschätzten Wahlbudget von 150 000 Franken gestartet. Momentan sind wir eher bei 200 000 bis 250 000 Franken. Was reinkommt, geben wir wieder aus.

Woher stammt das Geld?
Von kleinen Spenden und einzelnen Grossspenden zwischen 5000 und 8000 Franken. Auf Anfrage lege ich alle Namen der Spender über 5000 Franken offen, das ­verlangt die Partei von mir.

Wie viel Geld sammeln Sie online?
MK: Etwa ein Drittel, wobei E-Mail-Anfragen besonders effektiv sind. Nur wenige spenden per Kreditkarte. Viele bestellen einen Einzahlungsschein.

Wie viel Geld fliesst in digitale Aktivitäten?
MK: Der grösste Posten geht in Manpower, wobei viele Freiwillige die digitalen Aktivitäten betreuen.

Wie viele Personen tun das?
CW: Es ist ein Profi, dazu zwischen 20 und 30 Freiwillige, die meinen digitalen Auftritt betreuen.

Was machen diese vielen Personen?
CW: Zur 1.-August-Rede in Seon begleiteten mich ein Fotograf und ein Videograf. Eine dritte Person hat die Bilder geschnitten, jemand bespielt Instagram. Das sind alles Freiwillige. Es zeigt die Dynamik meiner Kampagne. Man kann dieses Engagement nicht faken.

Der Bundesrat hat E-Voting vorerst ausgesetzt. Wann stimmen wir ­elektronisch ab?
CW: Ich bin vom gelassenen Befürworter zum skeptischen Gegner geworden.

Warum?
CW: Es werden kaum mehr Jugendliche abstimmen. Politik scheitert, weil sie nicht glaubwürdig ist – und nicht wegen des Abstimmungs­verfahrens. Es ist nicht schwierig, einen Zettel auszufüllen. Die Frage der Sicherheit ist nicht gelöst. Gibt es einmal ein Problem, sind alle Abstimmungen der nächsten zehn Jahre diskreditiert.