“Gedruckte Wahlzeitung ist effektiver als Online-Posts”

FDP-Nationalrat Marcel Dobler und Kampagnenleiter Matthias Leitner über den digitalen Wahlkampf ihrer Partei – und warum die Freisinnigen erstmals auf Big Data setzen.

Von Peter Hossli (Interview) und Daniel Kellenberger (Fotos)

Marcel Dobler (39) ist seit 2015 FDP-Nationalrat im Kanton St. Gallen. Er gehörte zu den Gründern von Digitec, deren CEO er 13 Jahre lang war. Seit Sommer 2018 ist er Mitbesitzer des Spielwaren-Händlers Franz Carl Weber. Dobler war Schweizer Meister im Zehnkampf und im Viererbob. Er kandidiert im Herbst zusätzlich für den Ständerat.

Matthias Leitner (33) studierte an der Universität Bern Politikwissenschaften. Seit 2010 arbeitet er für die FDP. Fünf Jahre war er Kampagnenleiter der Frei­sinnigen, heute amtet er als stellvertretender General­sekretär und Leiter Parteiorganisation.

Herr Dobler, Sie kandidieren in St. Gallen für den Ständerat. Gestern haben Sie auf Instagram ein Video gepostet, das Sie auf dem Wakeboard zeigt. Gewinnt man damit Wahlen?
Marcel Dobler: Wichtig ist die Mischung. Instagram ist ein persönliches Portal. Da gehören Sportbilder dazu. Auf Twitter und LinkedIn poste ich keine solche Videos.

Auf Instagram sind Sie sportlich, auf Twitter und Facebook politisch?
MD: Auf Instagram unterhaltend und bildgebend, auf Facebook hat es Platz für Botschaften.

Herr Leitner, welche Richtlinien und Empfehlungen gibt die FDP an Kandidaten ab, die soziale Medien nutzen?
Matthias Leitner: Wir empfehlen, früh anzufangen und authentisch zu bleiben. Zudem schulen wir all jene, die das wünschen. Es macht wenig Sinn, wenn jemand zwei Monate vor den Wahlen plötzlich auf Instagram auftaucht.

Herr Dobler, der Aargauer SP-Ständeratskandidat Cédric Wermuth hat 47 000 Follower auf Twitter, Sie etwas mehr als 2100. Was macht er besser?
MD: Die Anzahl der Follower korreliert oft mit der beruflichen Belastung neben dem Parlament. Herr Wermuth ist nur Parlamentarier und investiert vermutlich viele Stunden pro Tag in die sozialen Medien. Als Unternehmer kann ich das nicht. Es gibt Politiker, die nicht viel anderes tun, als die sozialen Medien zu bewirtschaften.

ML: Linke Politiker sind in den sozialen Medien untereinander solidarischer. Gegenseitig teilen und liken sie ihre Inhalte. Wir Bürgerlichen müssen lernen, die Algorithmen besser zu bearbeiten. Ein Blick allein auf die Follower-Zahlen greift aber zu kurz. Aussagekräftiger ist, wer es von den sozialen Medien in die Zeitungen schafft.

Das gelingt Politikern auf beiden Seiten der Pole – etwa Wermuth links und Andreas Glarner rechts –, aber nicht allzu oft FDP-Vertretern.
ML: Beide setzen auf Kontroversen und gehen an das Limit dessen, was die Gesellschaft erträgt.

Damit ist Donald Trump US-Präsident geworden.
ML: Sie provozieren, in der Hoffnung, eine Diskussion auszulösen. Die sozialen Medien belohnen dies, weil die Interaktionen hoch sind. Man darf sich aber fragen: Ist das guter Stil?

Eine andere Frage scheint wichtiger: Kann man Twitter-Provokationen in Stimmen ummünzen? Bei Trump hat es funktioniert.
MD: In Amerika gibt es zwei Parteien, da reicht es, die andere anzugreifen. Das politische System der Schweiz ist komplexer und weit weniger anfällig auf Twitter-Provokationen.

Trump hat seinen Digital-Manager von 2016 zum Wahlkampf-Manager 2020 befördert. Wie wichtig ist die digitale Sphäre bei Schweizer Wahlen?
ML: 2011 gab es erste Versuche. 2015 hat man das, was man gemacht hat, zusätzlich für die sozialen Medien gemacht. 2019 werden erstmals eigene Inhalte für soziale Medien erstellt. Jeder Kanal spricht eine andere Gruppe an. Für eine Wirtschaftspartei wie die FDP ist LinkedIn wichtig. Instagram ist für die Jungen, Twitter für die Aktualität. Das Werbebudget fliesst zu Facebook, da dort die Massen sind.

MD: Es reicht nicht, nur online zu investieren. Es braucht offline Aktivitäten, Plakate, Inserate, man muss gesehen werden. Ich verschicke eine Wahlzeitung in alle St. Galler Haushalte. Das ist effektiver als Onli

ne-Posts.

Wie viel geben Sie 2019 für Ihren Wahlkampf aus?
MD: Wie bereits 2015 lege ich das nicht offen. Sie können davon ausgehen, dass sich das Budget in einem ähnlichen Rahmen bewegt wie bei anderen Ständeratskandidaten.

Wie gross ist der Online-Anteil?
Zehn Prozent.

Die CVP schaltet national weder analoge Plakate noch Inserate.
ML: Eine gewagte Strategie …

MD: … ultramutig, aber aus meiner Sicht fatal.

Ist es möglich, mit einer ausschliesslich digitalen Wahlkampagne Nationalrat zu werden?
MD: Sag niemals nie! Aber: Roger Federer ist vermutlich der einzige Schweizer, der den Sprung ins Parlament allein über die sozialen Medien schaffen könnte.

Die FDP setzt erstmals auf Big Data. Was machen Sie anders als andere Parteien?
ML: Wir versuchen, unsere Werbefranken effizienter einzu­setzen. Deswegen berechnen wir über Aggregatsdaten, wo in einer Gemeinde, in einem Stadtkreis, in einem Kanton eher FDP-Wähler wohnen. Das erlaubt uns, sehr präzise Plakate zu hängen. Identifizieren wir eine FDP-affine Strasse mit geringer Wahlbeteiligung, lohnt es sich, dort eine Strassen­aktion zu machen.

Sie betreiben sogenanntes Mikrotargeting. Aufgrund welcher Daten ist das möglich?
ML: Wir haben das Modell zusammen mit Gfs.Bern entwickelt. Es basiert auf den Sinus-Milieus, einem Datensatz, der für jedes Haus sagt, welche Art Menschen dort mit welcher Wahrscheinlichkeit leben.

Sie wissen, wo welche Wähler wohnen?
ML: Das Modell betrachtet beispielsweise, wie alt und wie gross ein Haus ist, ob es in der Nähe eines Sees steht, wann es letztmals renoviert wurde. Daraus lassen sich Schlüsse ziehen, wie die Bewohner wählen. Die Daten basieren auf dem Register, dass die Eidgenossenschaft führt.

Wenden Sie es schweizweit an?
ML: Wir können in jeder Gemeinde sagen, wie hoch unser Potenzial ist und ob es sich hier oder dort lohnt, Werbung zu schalten.

MD: In den USA wird das längst gemacht. Jetzt wird der Wahlkampf in der Schweiz wissenschaftlich und datengetrieben. Parteien, die das machen, haben kurzfristig einen Vorteil. In zehn Jahren machen das alle, dann ist es Standard.

Wie gross ist der prozentuelle Stimmengewinn, den die FDP erwartet?
ML: Beim Door-to-Door-Bereich haben wir in einem Test einen positiven Effekt von 0,5 Prozent erreicht.

Das tönt nach wenig.
MD: Es zeigt den Unterschied zu Trump. Er kann mit Mikrotargeting an gewissen Orten zwischen 10 und 30 Prozent erreichen. In unserem System sind 0,5 Prozent der Stimmen viel.

Mit der Digitalisierung ist in vielen Ländern der Einfluss ausländischer Akteure in die Politik gestiegen. Wie sieht das in der Schweiz aus?
MD: Unser System ist zu komplex, die Anzahl Kandidaten und Parteien zu hoch. Es ist extrem schwierig, direkt Einfluss zu nehmen. Es gibt aber einzelne Politiker, die ihre Aufträge im Ausland vergeben.

Wer zum Beispiel?
ML: Politiker holen sich Spezialisten, da wir mit Wahlkämpfen relativ wenig Erfahrung haben. Cédric Wermuth engagiert eine Werbeagentur in New York. Er kauft sich dort das Know-how ein – obwohl er ja betont, man müsse Arbeitsplätze in der Schweiz schützen.

Der Bundesrat hat E-Voting vorerst ausgesetzt. Herr Dobler, wann stimmen wir elektronisch ab?
MD: In fünf bis zehn Jahren sind wir bei 100 Prozent. Die Vorgabe bei E-Voting ist Sicherheit vor Tempo. Jetzt braucht es einen Neustart, um das zu garantieren. Der jetzige Anbieter ist ein Problem. Nötig sind dezentrale Datenhaltung und Nachverfolgbarkeit der Stimmen, bis nach der Abstimmung.

Sie wollen den Prozess deanonymisieren?
MD: Das Stimmregister sollte von der Abstimmungssoftware abgekoppelt werden. Vom Stimmregister erhält der Wähler einen Code. Damit kann er in einem anderen System abstimmen und die Stimme nachverfolgen. Dadurch bleibt die Anonymität gewahrt.

Wie verändert E-Voting das Abstimmungsverhalten?
MD: Wählt man physisch, macht man sich mehr Gedanken, da man Informationen auf der Strasse, in den Medien, bei Gesprächen bekommt. Beim E-Voting besteht die Gefahr, dass neben der Wahlwerbung der Link zum Abstimmen gesetzt wird. Eine Entscheidung fällt schneller. Ähnlich wie beim Konsumkreditgesetz braucht es einen Übereilschutz.

Wie verändert sich die politische Landschaft, wenn digitales Abstimmen möglich ist?
MD: Es werden nicht mehr und nicht mehr Junge wählen und abstimmen als heute, das ist untersucht. Es gibt eine Verschiebung von Post zu E-Voting, aber der Postanteil bleibt hoch.

Warum ist das so?
MD: Der Prozess des E-Votings ist nicht benutzerfreundlich. Physisch abgestimmt hat man in 30 Sekunden. Beim E-Voting muss man eine lange Nummer eingeben und einen weiteren Code, das dauert drei Minuten. Die elektronische Identität könnte die Lösung sein.

Sie ist umstritten.
MD: Ist sie das?

Kritiker sagen, Identitätskarten auszustellen, dürfe nicht Aufgabe von Privaten sein.
MD: Wer das sagt, versteht die SwissID nicht. Es ist eine staatlich-private Lösung. Alles Wichtige liegt beim Staat: die Kontrolle, Freigabe der Daten, die Organisation. Privat ist einzig der Vertrieb.

Herr Dobler, werden Sie dank Mikrotargeting im Herbst Ständerat?
MD: Das entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Ich werde das Bestmögliche geben.