Warum ist Messi der beste?

Im Fussball gewinnt, wer die Mannschaft daten­basiert zusammenstellt, sagt GC-Ausbildungschef Timo Jankowski. Trainer ohne Datenkenntnisse hätten in diesem Geschäft nichts mehr verloren

Von Peter Hossli (Interview) und Daniel Kellenberger (Fotos)

Timo Jankowski (34) war ein mittelmässiger Fussballer. Deshalb studierte der Schwabe Betriebswirtschaft und befasste sich mit der Theorie des schönen Spiels. Er arbeitete für den DFB und trainierte die Junioren des FC Aarau. Heute arbeitet er als Ausbildungschef von GC.  Er ist Autor zahlreicher Bücher über Fussballtaktik, unter anderem «Taktische Periodisierung im Fussball».

Herr Jankowski, wann steigt GC wieder in die Super League auf?
So schnell wie möglich.

Sie müssten es genauer wissen. Sie analysieren den Fussball anhand von Daten und mathematischen Modellen.
Für die Challenge League gibt es leider noch zu wenig nutzbare Daten.

Lässt sich der Abstieg von GC aus der Super League mit Daten erklären?
Erfolgreiche Mannschaften setzen 18 Spieler ein, die über 90 Prozent der Spielzeit ausmachen. GC hat in der letzten Saison mehr als 40 Spieler eingesetzt.

Mit welchen Datenparametern lässt sich der Erfolg des Fussballs erklären?
Fussball ist ein komplexes Spiel. Einer der wichtigsten Faktoren sind die «expected goals»: Situa­tionen, in denen ein Tor entstehen könnte. Wer davon viele hat, gewinnt langfristig. Ein Elfmeter weist 0,7 «expected goals» auf. Bei 70 Prozent der Penaltys entsteht ein Tor. GC hatte letzte Saison nicht Pech, sondern zu wenig «expected goals». Die Daten sagen daher: GC ist zu Recht ab­­gestiegen.

Der schottische Nationalspieler Craig Burley wurde von einem Reporter einst gefragt, wie viele Tore er erwarte. «Ihre Frage ist Blödsinn», antwortete Burley. Ist die Frage Blödsinn?
Überhaupt nicht. Man kann mit Modellen, die auf «expected goals» basieren, den Tabellenstand vorhersagen. Taucht ein Spieler immer wieder an einem gefährlichen Ort auf, ist es eine Frage der Zeit, bis er Tore schiesst. Der schwedische Stürmer Zlatan Ibrahimovic hatte einst einen schlechten Start bei Manchester. Aufgrund der Daten war klar: Er wird einschlagen und bald Tore schiessen, was er tat.

Bei Basketball, Football und Baseball sind Datenanalysen zentral. Und bei Fussball …
… sind sie nicht mehr wegzudenken. Fussball wird immer Fussball bleiben, aber er wird durch Daten schneller und besser. Trainer wechseln aufgrund der Daten frische Spieler ein und müde aus. Sie entscheiden, wie viele Spieler sie nach vorne schicken, wann sie kontern und wie oft ein Stürmer in den Strafraum sprinten soll.

Das tönt theoretisch.
Man kann mit einem Klick pro Mannschaft rund 300 Indikatoren sehen. Jedes Team hat ein Stärke-Schwäche-Profil. Der Datenanalyst von Liverpool wusste, dass Tottenham in den Startphasen immer Probleme hat. Deshalb hat Liverpool am Anfang des Champions-League-Finals aggressiv nach vorne gespielt. Prompt erzielte Liverpool nach zwei Minuten das erste Tor.

Aber was, wenn ein Team zwar gut spielt, aber kein Glück hat?
Glück ist ein Faktor. Bei Fussball ist er mit 30 Prozent relativ hoch. Das Spiel ist komplex, und es wird mit Füssen gespielt. Füsse sind weniger zuverlässig als Hände. Umso wichtiger ist es, die anderen 70 Prozent in den Griff zu bekommen. Sie machen 80 Prozent des Erfolgs aus. Das wissen erfolgreiche Trainer und Vereine seit 2014.

Wie begann dieser Trend?
Der Oxford-Mathematiker Matthew Benham hat viel Geld mit Fussball-Wetten verdient. Er konnte sich zwei Vereine kaufen. Den FC Brent­ford führte er aus der dritten Liga an die Schwelle zu Premier League. Sein dänischer Verein FC Midtjylland wurde zwei Mal Meister und einmal Pokalsieger. Benhams Erfolge verliehen datenbasiertem Fussball einen Schub.

Liverpool hat dank Jürgen Klopp die Champions League gewonnen!
Er ist sicher ein hervorragender Coach. Aber ein Datenanalyst half ihm, das Team zusammen­zustellen. Vor dem Final sah er aufgrund der Daten, dass das B-Team von Benfica Lissabon ähnlich spielt wie Tottenham. Liverpool testete mit Lissabon und bereitete sich so optimal auf den kommenden Final ein.

Ist der Datenanalyst wichtiger geworden als der Coach?
Nein, aber sie müssen auf Augenhöhe sein. Entscheidend für den Erfolg im Fussball ist vernetztes Denken: Der Verein setzt das Ziel, Datenanalyst und Trainer machen alles, um es umzusetzen. Ein Fussballtrainer muss Datenknow-how mitbringen, sonst hat er im Fussball nichts mehr verloren.

Was macht der Coach, wenn sein Team doppelt so viele Chance hat wie der Gegner, aber weniger Tore schiesst?
Dann muss der Datenanalyst einen Stürmer finden, der eine Umwandlungsrate von mindestens 20 Prozent hat.

Dann trifft der Datenanalyst die Entscheide?
Über allem sollte der Verein stehen. Der Verein legt die Strategie fest. Anhand von Daten setzt man sie um, sucht dafür geeignete Spieler und den richtigen Trainer. Zu viele Vereine überlassen die Strategie dem Trainer. Es gibt keine Konti­nuität. Im Schnitt kommt alle neun Monate ein neuer Trainer, der wieder von vorne anfängt.

Hat ein Trainer keinen Erfolg, ist es doch richtig, ihn auszuwechseln.
Schaut man auf die Daten, ergibt sich oft ein anderes Bild. Es ist möglich, ein Spiel 0:2 zu verlieren, bezüglich der «expected goals» aber 4:3 zu gewinnen. Würde man die Tabelle aufgrund definierter Indikatoren machen, steht ein Trainer vielleicht gar nicht so schlecht da.

Ein Beispiel bitte!
Letzte Saison wurde Dortmund in der Bundesliga Herbstmeister. Aufgrund der Daten hat der Verein zu gut gespielt, Widersacher Bayern München zu schlecht. Ich habe immer gesagt, das werde sich im Laufe der Saison ändern. Am Schluss war Bayern Meister.

Sie können hellsehen?
Nein. Trainer Kovac hat die Spielidee konsequent weiterent­wickelt, aber er hatte anfänglich wenig Spielglück. Das hat sich in der zweiten Saisonhälfte wie erwartet verändert. Würde man auf Daten statt die Meinung alter Fussballer achten, gebe es weniger Entlassungen.

Wie nutzen Trainer Daten, um die Startelf zu bestimmen?
Ständig messen sie Fitness und Frische. Am Spieltag gleichen sie die Parameter aufeinander ab und entscheiden, ob ein Spieler einsatzfähig ist. Ist ein zwar fitter und schneller Spieler müde, ist es je nach Modell besser, den lang­sameren, aber frischeren Spieler einzusetzen.

Jeder Spieler will ins Team und könnte Frische vortäuschen.
Früher fragte der Coach: «Hast du gut geschlafen?» Sagte der gute Spieler Ja, durfte er spielen. Heute messen wir die Schrittbalance. Ist einer müde, gerät die Balance aus dem Ruder. Da kann man objektiv sagen: Er ist zu müde für ein Spiel.

Liverpool hat dank Datenanalysen die Champions League gewonnen. Wie weit könnte ein Schweizer Klub damit kommen?
Es könnte den Schweizer Fussball umkrempeln, zumindest was die Plätze 3, 4 und 5 betrifft. Vorne sind YB und Basel übermächtig. Aber St. Gallen ist mit dem fast gleichen Torverhältnis Fünfter geworden, mit dem Lausanne abgestiegen ist. Das zeigt, wie nah die einzelnen Teams sind. Mit einem datenbasierten Prozess kann man Dritter werden.

Wie viel Zeit braucht es, um eine Spielidee umzusetzen?
Um ein gesetztes Ziel zu erreichen, sind fünf bis sieben Jahre nötig.

Diese Zeit hat niemand. Schweizer Klubs wollen selbstredend sofort in die Champions League.
Daten helfen, realistisch zu bleiben. Die Champions League ist vielleicht nicht das richtige Ziel. Man erreicht es alle sieben Jahre und erhöht in jenem Jahr die Lohnsumme. Interessanter für ein Schweizer Team wäre es, jedes Jahr die Europa League zu erreichen und europäisch zu überwintern. Das kostet weniger und bringt langfristig finanziell mehr.

Laut Pelé ist Fussball das schöne Spiel. Machen Daten den Fussball hässlich?
Nein, sie machen ihn besser. Das Spiel ist dank Daten schneller und attraktiver. Mit Daten lässt sich eine Mannschaft optimieren und die Ausbildung der Spieler verbessern. Im Fussball geht es um Raum und Zeit und darum, schnell Lösungen zu finden. Mathematische Modelle helfen ungemein.

Viel schneller kann das Spiel kaum werden.
Es wird sich in den nächsten zehn Jahren noch einmal rasant entwickeln. Dann kommen Spieler in die erste Mannschaft, die bereits im Alter von 7 Jahren daten­basiert trainiert haben. Die heute 19-Jäh­rigen übten noch Mann­deckung.

Der Ball ist rund, ein Spiel dauert 90 Minuten. Stimmt demnach nicht mehr?
Ein Spiel dauert effektiv 60Minuten. Uruguay ist 2010 WM-Dritter geworden, weil das Team mit Einwürfen die Nettospielzeit verkürzt hat. In der spielfreien Zeit erholten sich die Spieler gezielt, damit sie in der effektiven Spielzeit ein höheres Tempo gehen konnten.

Alles lässt sich nicht mit Modellen erklären. Lionel Messi kann 89 Minuten nichts tun und in genialen Sekunden Spiele entscheiden.
Falsch! Modelle zeigen, wie wirkungsvoll Messi in 89 Minuten ist. Es geht im Fussball nicht nur um den Ort des Balls, sondern was darum herum passiert. Messi kreiert Räume für seine Mitspieler. Ohne Ball zieht er Gegenspieler an und setzt Mitspieler frei. Daten zeigen, wie brutal clever Messi herumsteht.

Mögen die Spieler solche Daten­analysen?
Es verbessert sie. Sagte man einem Spieler früher, «du läufst zu wenig», zuckte er wütend die Achseln und ging. Heute kann man mit ihm sachlich anhand von Daten diskutieren. Das spornt ihn an, weil er weiss: Der Trainer ist nicht wütend auf mich, ich war zu langsam, ich muss etwas tun.

Der Daten-Guru des FC Liverpool sagt, die Funktion der Daten im Fussball sei nach wie vor limitiert. Was fehlt?
Besseres Ball-Tracking. Wir haben zwar Positionsdaten von Spielern, können sie aber nicht richtig mit dem Ball abgleichen. Ist das möglich, gibt das einen weiteren Schub für die Analyse.

Was hat ein Coach vom Chip im Ball?
Es ist möglich, die Torhäufigkeit aufgrund der Schussgeschwindigkeit zu erhöhen. Im Training kann man gezielt üben, einen Ball schneller zu spielen und so mehr Torchancen zu kreieren.

Im Sommer ist Transferzeit. Wie stellen Vereine ihre Teams zusammen?
Mit Hilfe von Datenanalysen. Man definiert die Spielidee und sagt etwa: «Wir wollen wie Ajax Amsterdam spielen. Dafür brauchen wir einen Spieler vom Typ Matthijs de Ligt.» Innert Sekunden spuckt mir der Computer eine Liste mit 70 Spielern aus. Jene auf der ersten Seite sind wohl zu teuer. Aber es gibt Spieler aus Tschechien, die sind so gut wie die Holländer, aber günstiger und motivierter. Filtert man die Alten raus, bleiben zwei oder drei Spieler übrig.

Das Berufsmodell Spielerscout hat keine Zukunft?
Wofür ein Scout Wochen braucht, ist am Computer in 20 Minuten erledigt.

Auf wie viele Spieler haben Sie Zugriff?
Mittlerweile gibt es Daten von 51 Ligen. Nun kommen U17-Meisterschaften dazu.

Was wissen Sie über einen Spieler, bevor er gekauft wird?
Profifussballer sind gläsern geworden. Bekannt ist die Verfügbarkeit während der Saison, das Positionsprofil, die Schnelligkeit. Kann er besser in einer 3er- oder einer 4er-Kette arbeiten? Braucht er einen Links- oder einen Rechtsfuss neben sich? Passt er zu den anderen? Das geschieht nicht intuitiv, sondern datenbasiert.

Worauf achten Sie besonders?
Etwa auf die Anzahl Sprints und die Geschwindigkeit. Rennt er mit 21 km/h oder mit 28 km/h.

Warum ist das wichtig?
Datenanalysen zeigen: Spielentscheidende Aktionen folgen oft auf einen Sprint mit 28 km/h. Sprintet ein Mittelfeldspieler sieben Mal in die Tiefe, entstehen zwei gefährliche Torszenen. Wir messen Frische, die Antritte, wie viel Energie einer verbraucht hat, die Pass-Symmetrie. Anhand der Daten lässt sich sagen, welcher Spieler zu wem passt.

Wer ist der beste Fussballer aller Zeiten?
Da gibt es keine Zweifel, die Daten sind eindeutig: Lionel Messi. Er hat den mit Abstand höchsten Grad an «expected goals».

Andere sagen: Cristiano Ronaldo.
Die Daten sprechen gegen Ronaldo. Er hat weit weniger «expected goals» als Messi. Zudem ist er einer der schlechtesten Freistossschützen. Sein Umwandlungssatz liegt bei 4,5 Prozent. Zlatko Junuzovic von Werder Bremen haut 24 Prozent seiner Freistösse ins Tor. Bei Messi sind es 10 Prozent.

Welcher Schweizer Fussballer ist der derzeit beste?
Remo Freuler hat extrem gute Werte, was den Weg nach vorne betrifft.