Kann man einen Algorithmus lieben?

Für die israelische Autorin Eva Illouz ist die Liebe im digitalen Zeitalter zum Einkaufserlebnis geworden. In Zukunft werden wir Sex mit Robotern vorziehen.

Von Peter Hossli und Nicoletta Cimmino* (Interview) und Guy Prives (Fotos)

Die israelische Soziologin Eva Illouz (58) lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie befasst sich mit der Liebe und dem Gefühlsleben. Ihre zwölf Bücher sind in 18 Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen ist 2018 «Warum Liebe endet».

Frau Illouz, Sie haben sich ein Leben lang akademisch mit Liebe befasst. Was lieben Sie an der Liebe?
Der österreichische Autor Arthur Schnitzler wurde einst gefragt, warum er bloss über Sex und den Tod schreibe. Und er sagte: «Gibt es andere Themen?» Liebe ist das Wichtigste in unserem Leben. Es gibt ihm Sinn. Gleichzeitig ist es eine grosse intellektuelle Herausfor- derung, sich mit Liebe zu befassen. Das reizt mich.

Liebe ist mysteriös. Verliert sie im digitalen Zeitalter ihr Geheimnis?
Nach wie vor verstehen wir den Moment des Verliebens nicht vollständig. Warum verlieben wir uns in diese Person und nicht in eine andere? Für uns Menschen ist dieses Mysterium bedeutend. Nun ist die digitale Welt daran, die Liebe völlig zu entzaubern.

Wie denn?
Treffen wir uns persönlich, erfahren wir das als etwas Ganzheitliches. Wir sehen uns, hören unsere Stimme, eine echte Begegnung ist eine körperliche Erfahrung.

Und online?
Über Profilbilder auf Dating-Plattformen erhalten wir nur noch bruchstückhafte Informationen. Da besteht eine Person bloss aus Einzelteilen – das Gegenteil einer ganzheitlichen Erfahrung. Wir wählen Personen aufgrund von Datensätzen aus.

Das allein entzaubert die Liebe?
Das – und das enorm grosse Angebot. Es ist längst unmöglich geworden, es zu verarbeiten. Die Liebe im Internet ist ein All-you-can-eat-Buffet statt wie einst eine Mahlzeit mit Vorspeise, dem Hauptgang und einem Dessert.

Mit welchen Folgen für unser Beziehungsleben?
Die Liebe ähnelt in der digitalen Welt dem Einkauf im Supermarkt. In der Auslage liegen Produkte, deren Existenz wir bis anhin nicht einmal kannten. Liebe folgt im Internet den Gesetzen der Marktwirtschaft. Das Angebot steigt, die Konkurrenz ist gross, der Preis sinkt. Wer da bestehen will, muss sich wie ein Produkt anpreisen, Werbung machen, sich ständig optimieren, als sei man eine Marke.

Perfekte Marken treffen aufeinander – und werden irgendwann menschlich. Ist die Enttäuschung nicht grösser?
Doch.

Umso rascher verlassen wir dann den anderen, wenn er nicht mehr perfekt ist?
Sobald eine Frau zu nerven beginnt oder ein Mann unpassende Kleider anzieht und blöd aussieht, findet man mit einem Mausklick die oder den Nächsten. Die Fluktuation an Partnern nimmt ständig zu.

War das in der analogen Welt anders?
Die gesellschaftlichen Regeln haben sich extrem gewandelt. Einfach zu verschwinden und sich nicht mehr zu melden, ist üblich, Ghosting salonfähig geworden. Vor 40 Jahren war das ein schweres moralisches Vergehen. Heute sind wir schnell in Beziehungen drin, und schnell wieder draussen.

Werden wir dereinst mit Robotern echte Liebesbeziehungen haben?
Da habe ich keine Zweifel. In etwa 30 Jahren wird es Roboter geben, die sich perfekt auf uns einlassen. Wir werden nicht mehr daran denken, dass es Maschinen sind.

Eine Maschine wird doch nie so vielfältig sein wie ein menschlicher Partner.
Viele Ehen folgen doch einem immer wiederkehrenden Drehbuch. Es herrscht in vielen Beziehungen bleierne Routine. Und die Anzahl der Sätze, die Eheleute austauschen, ist ziemlich beschränkt.

Ein Algorithmus ist da besser?
Mit einem Algorithmus können Sie mehr Spass haben. Er hat nie schlechte Laune und einen besseren Humor. Roboter sind nicht beleidigt, wenn man sich über sie aufregt. Sie sind möglicherweise die besseren Liebespartner.

Dann braucht es Menschen in der Liebe nicht mehr?
Menschen brauchen nach wie vor das Gefühl, von jemandem auserwählt worden zu sein.

Ein Algorithmus lässt sich so programmieren, dass er jemanden bewusst auswählt.
Dann braucht es die Menschen für die Liebe vielleicht nicht mehr. Das wäre das posthumane Zeitalter.

Noch buhlen zahlreiche Dating-Plattformen um Menschen. Welche setzt sich durch?
Die Betreiber neuer Dating-Plattformen realisieren, dass der Vorteil herkömmlicher Dating-Seiten zu einem Nachteil geworden ist. Es gibt schlicht zu viele Fische im Teich. Deshalb schlagen die neuen Player höchstens noch ein Date pro Tag vor.

Ein Date pro Tag tönt nach sehr viel.
Immerhin gibt es eine Beschränkung. Das verbessert die Chance, eine passende Person zu finden. Gute Algorithmen schlagen mögliche Partner aufgrund übereinstimmender Werte und nicht aufgrund des Äusseren vor.

Sind ernsthafte Beziehungen mit Hilfe von Dating-Plattformen überhaupt möglich?
Sicher. Die richtige Frage lautet aber anders: Sind die neuen Technologien hilfreich für stabile Beziehungen. Ich glaube nicht.

Warum nicht?
Weil es praktisch nichts kostet, einen neuen Partner zu suchen. Das Internet gibt uns das Gefühl, dass es noch viele tolle Menschen gibt, die auf uns warten.

Sie sehen nichts Positives?
Dank des Internets überwinden wir gesellschaftliche und geografische Grenzen. Falls wir das wollen, lernen wir Menschen ausserhalb unserer sozialen Blasen kennen.

Verändert die Digitalisierung die Geschlechterrollen?
Es ist akzeptabler geworden für Frauen, Beziehungen zu initiieren. Allerdings verstärkt das Internet eine traditionelle Vorstellung: dass nur eine schöne Frau eine begeh- renswerte Frau ist. Der Druck, schön zu sein, ist heute stärker als vor 30 Jahren. Bei Tinder zum Beispiel geht es hauptsächlich um das Bild.

Aber für Frauen ist Tinder einfacher als für Männer. Sie erhalten mehr Matches und können auswählen, wen sie wollen. Schafft Tinder, was die sexuelle Revolution nicht geschafft hat?
Das ist oberflächlich. Tinder gibt uns Frauen das Gefühl, wir könnten auswählen, wir hätten Macht. Wir sehen einen Typen und sagen: Furchtbar. Dann wischen wir nach links. Das ist ein bestär- kender Schritt. Man sagt: Ich will diesen Mann nicht. Aber ist das wirklich Macht? Beim ersten Rendezvous fallen wir wieder in traditionelle Muster. Der Mann bezahlt das Essen.

Junge Leute sind sich gewohnt, einander im Internet kennenzulernen. Für viele ältere Leute ist das Neuland. Sind ältere Menschen einsamer?
Nein. Mit der Scheidungsrate ist die Benutzerrate von älteren Menschen im Internet gestiegen. Sie benutzen die sozialen Medien zielgerichteter.

Wie erlebt jemand Liebe, der von Geburt an mit dem Internet aufwächst?
Digital Natives suchen weniger die Liebe für das Leben. Viele ihrer Vorbilder sind geschieden oder getrennt. Sie glauben nicht daran, jemanden zu treffen, mit dem sie ihr Leben verbringen werden. Beziehungen begreifen sie wie aufeinanderfolgende Episoden. Mit Leichtigkeit starten sie, beenden sie, starten und beenden sie Bezie- hungen. Oder sie bleiben alleine.

Wie ist ihre Beziehung zur Sexualität?
Sie haben völlig unrealistische Erwartungen. Sie schauen Pornos im Netz und werden zu sexuellen Virtuosen. Die Hedonisten aus dem 18. Jahrhundert würden erblassen vor Neid auf das Wissen heutiger Jugendlicher. Auf diesen Pornoseiten bekommt man ein Angebot vorgesetzt wie in einer dieser modernen Kaffeebars.

Sie meinen, Youporn ist organisiert wie Starbucks?
Man sieht auf Pornoseiten Akte, die man früher nicht kannte. Genau wie es viele neue Kaffeegetränke gibt. Wir entwickeln sexuelle Vorlieben und befriedigen sie ganz gezielt mit einem Videoclip.

Mit Folgen für die Sexualität im realen Leben?
Wir betrachten den Partner als Person, die ein Einkaufserlebnis zu befriedigen hat. Habe ich
zum Beispiel die Fantasie eines flotten Dreiers – das ist vermutlich längst altmodisch –, hat mein Partner diese Fantasie zu erfüllen.

Was macht die ständig verfügbare Internet-Pornografie mit uns?
Frauen wie Männer lernen, dass Frauen beliebig austauschbar und nicht mehr als ein Körper sind. Sie sind nicht sehr wertvoll. Da Pornografie überall ist, trennen sich Sexualität und die Gefühlswelt immer mehr. Männer, die ständig Pornos schauen, verlieren ohne Pornografie die Fähigkeit, mit einem realen Menschen in Verbindung zu treten. Sie sind oft nicht mehr in der Lage, im Beisein einer Frau erregt zu sein.

Gibt es kein Zurück in dieser Entwicklung?
Ich habe keine Kristallkugel. Aber alle Daten und Fakten sprechen dafür, dass diese Entwicklung weitergeht.

* Nicoletta Cimmino ist «Echo der Zeit»-Moderatorin bei SRF