Von Peter Hossli
Am 3. August 2019, um 4 Uhr 30, traf eine Kugel ein Mädchen in den Kopf. Es hiess Queen Dean, war gerade vier Wochen alt geworden und lebte in Shreveport, der drittgrössten Stadt in Louisiana. Aus einem fahrenden Auto schoss einer in das Haus, in dem die kleine Königin schlief. Nun bezahlt die Polizei 2000 Dollar demjenigen, der den unbekannten Schützen meldet.
Die Medien berichteten an jenem Tag über den Amoklauf in El Paso, Texas, bei dem 22 Menschen starben. Ein Massaker, das die täglichen Blutbäder unsichtbar erscheinen lässt.
Ihre Anzahl ist erschreckend hoch, belegen Zahlen, die das Gun Violence Archive (GVA) aus 6500 Quellen zusammenträgt. Vergangenes Jahr zählte die Nonprofitorganisation mit Sitz in Washington 57383 Schiessereien. 14771 Menschen starben, 28236 verletzten sich. Eine nur leichte Beruhigung gegenüber 2017, als 15671 Amerikaner erschossen wurden. In der Woche vor dem Amoklauf in Texas kam es zu 1033 Schiessereien mit 337 Toten.
«Gewalt gab es in Amerika lange bevor der laute Präsident im Weissen Haus sass», flüstert Hope Dudley, 68. Ihre Stimme klingt zerbrechlich. Was sie sagt, ist glasklar. «Mein Sohn wurde vor zwölf Jahren erschossen, da war Donald Trump noch Showmaster.»
Hope Dudley ruft mich aus Cincinnati an, aus dem US-Bundesstaat Ohio, wo sie seit ihrer Geburt lebt und aus einem fensterlosen Büro nach Mördern sucht. Ihr Sohn Daniel war 26 Jahre alt, sass auf dem Rücksitz, als jemand das Feuer auf sein fahrendes Auto eröffnete. «Vermutlich eine Verwechslung», sagt Dudley. Was sie sicher weiss: «Daniel war sofort tot.»
Aufklären konnte die Polizei den Mord bis heute nicht, wie mehr als 5000 weitere ungeklärte Morde in Ohio. «Es ist ein Albtraum, wenn dein Kind stirbt. Schlimmer ist es, nicht zu wissen, warum und wer es getan hat.»
Um Daniel zu ehren, gründete sie die Organisation «UCanSpeakForMe» – und hilft Müttern, die Mörder ihrer Kinder zu finden. Sie sucht online und verteilt in der Stadt Plakate, auf denen die Gesichter von Opfern prangen. Dazu stellt sie die Frage: «Können Sie helfen, die Person zu finden, die mich tötete?»
Am Fernsehen sah Dudley die Berichte über die Amokläufe in El Paso und Dayton, bei denen vor Wochenfrist 32 Menschen umkamen. Überrascht war sie nicht. «Auf Amerikas Strassen werden täglich viele Menschen mit Schusswaffen ermordet.» Etwas fiel ihr am TV auf: «Tötet ein Weisser, kümmert sich die Öffentlichkeit um dessen Psyche. Tötet ein Schwarzer, fragen alle, ob er dealte.»
Die Frage, ob ihr Sohn bewaffnet gewesen war, verneint sie. Die Frage, ob er mit Heroin handelte, nervt Dudley. «Stirbt ein Schwarzer, heisst es: Was hat er verbrochen? Bei weissen Opfern fragt man: Wer waren ihre Mörder?»
Schnörkellos beschreibt Dudley Amerikas verdrängte Waffengewalt, weitab der Fernsehkameras, angesiedelt zumeist in den schwarzen Innenstädten Chicagos und Baltimores, Detroits und Clevelands. Das stille Sterben ist blutig und wird wenig beachtet. «Morde an Schwarzen sind so alltäglich, die Medien und die Politik schauen längst nicht mehr hin.»
Sondersendungen gibt es, wenn in El Paso ein mutmasslich rechtsextremer 21-Jähriger tötet. Oder ein mutmasslich linksextremer 24-Jähriger in Dayton, Ohio, neun Menschen richtet, bevor die Polizei ihn erschiesst. Ins Rollen gerät ein Ritual: Reporter eilen zu Tatorten, soziale Netzwerke schlucken Wut und Empörung. Republikaner mimen Gesten der Betroffenheit und beteuern, die Opfer in «Gebete und Gedanken» einzubetten. Demokraten mimen Gesten des Zorns und fordern strengere Waffengesetze. Präsidenten trösten.
Jeder Amoklauf gebiert neue Erklärungsversuche. Die hasserfüllte Rhetorik Trumps. Die psychische Verfassung des Täters. Blutrünstige Videogames. Die National Rifle Association (NRA), Amerikas Schützenverein, der Verbote semiautomatischer Waffen ablehnt.
Keine Einigkeit besteht, ob Waffen oder Menschen töten, die diese benutzen. Zu erwerben sind die Waffen manchenorts sehr einfach, etwa im Over-the-Rhine-Quartier in Cincinnati, wo beim Waffenkauf, den ich 2016 beobachtete, kaum Worte fielen. «You got a gun?», fragte ein hagerer Kerl einen anderen hageren Kerl. Hast du eine Knarre? «You’re a cop?» Polizist sei er nicht. «Big or small?» Etwas Kleines. «Fifty bucks.» Fünfzig Dollar bar auf die Hand reichten, um in wenigen Minuten eine Pistole mit Patronen zu erstehen, übergeben im braunen Papiersack. Mehr Geduld und mehr Geld benötigt, wer ein militärisches Sturmgewehr erstehen möchte. «Gib mir sechs Stunden und 1500 Dollar, dann besorg ich dir eine AK-15», sagte der hagere Händler.
Wo es einfacher ist, am helllichten Tag ein Gewehr zu erstehen, als Gemüse zu kaufen, trifft der Ruf nach Waffengesetzen ins Leere. Unbesehen blüht in den USA ein Schwarzmarkt mit einem unbegrenzten Angebot. Schätzungsweise 390 Millionen Schusswaffen sind privat im Umlauf, mehr als ein Schiesseisen für jeden der 330 Millionen Einwohner Amerikas, Babys, Kinder und Greise eingerechnet.
Hinter jeder Zahl stehen Schicksale, einige besonders herzzerreissend. Am 2. August 2019 starb der dreijährige Avion Talley in Colonial Heights, Virginia. Ein Schuss hatte sich aus einer Waffe gelöst, die daheim herumlag. In Tucson, Arizona, starb am 31. Juli ein einjähriges Mädchen, beim Spielen erschossen von einem anderen Kleinkind, dessen Alter und Geschlecht unbekannt sind.
2017 starben laut US-Gesundheitsamt CDC 3256 Jugendliche durch Schussverletzungen. Unter schwarzen Kinder ist Waffengewalt die häufigste Todesursache, noch vor Autounfällen und Krankheiten. Drei Millionen Minderjährige beobachten pro Jahr Schiessereien.
Wohl daher seien die meisten amerikanischen Täter «einst traumatisierte Kinder, die nun erwachsen geworden sind», sagt Rashid Abdullah am Telefon. Wie Dudley traf ich ihn 2016 in Cincinnati für eine Reportage über Waffengewalt, in einer der gefährlichsten US-Innenstädte. «Kinder, die erlebten, wie ihre Mutter vergewaltigt wurde, die den Vater im Knast besuchten und Schlägereien sahen.»
Abdullah, 68, ist ein sanfter Mensch mit Vollbart und Glatze, der 1973 während eines Überfalls einen Ladenbesitzer erschossen hatte und deswegen 20 Jahre hinter Gittern sass. Heute ermutigt er Kriminelle, die Waffen zu strecken. Mit anderen verurteilten Mördern eilt er an Tatorte, um die aufgebrachten Angehörigen von Erschossenen zu besänftigen. Von Mitte Juni bis Mitte Juli dieses Jahres rückte Abdullah mehr als zwanzigmal aus. «Wir tun das, weil die Opfer und Täter unsere Kinder sind. Als Väter sassen wir im Gefängnis. Jetzt sind wir Grossväter und tun alles, um die Kinder zu schützen und zu stoppen.» Niemand sonst betreue sie. Ihr von Armut geprägter Alltag drehe sich fast nur um Beerdigungen und Festnahmen, Drogen und häusliche Gewalt. «Kinder erleben eine nie endende Abfolge von Traumata», so Abdullah. «Verunfallt in einer weissen Stadt ein Auto, ist sofort ein Care-Team da. Nach Morden unter Schwarzen bleiben Leichen stundenlang liegen, niemand kümmert sich um Kids, die an ihnen vorbeigehen.» Er erzählt von acht- und neunjährigen Buben, die sich das Leben nahmen. «Schwarze sind desillusioniert. Männer glauben, höchstens 25 Jahre alt zu werden.»
Aus Angst würden sie zur Waffe greifen. Sie sei wichtiger als das Smartphone, zudem einfacher und günstiger zu bekommen. «Eine Schusswaffe ist ein Werkzeug, um jemanden zu töten», erklärt der verurteilte Mörder. Ein Revolver schaffe Distanz. «Abdrücken ist einfacher, als mit dem Messer zu töten.»
Politiker könnten die Gewalt mit ihren Rezepten und Forderungen kaum brechen, glaubt Abdullah. «Familien müssen es tun und ihre Kinder richtig erziehen.» Unter Schwarzen kursiere ein Sprichwort, das es zu beachten gäbe: «Ich habe dich in diese Welt gesetzt, wenn du dich nicht anständig verhältst, nehme ich dich wieder raus.» Eltern sollten ihre gefährlichen Kids bei der Polizei melden oder sie in psychiatrische Kliniken einweisen.
Cincinnati habe einen schwarzen Polizeichef, «das hat Polizeigewalt verringert», sagt Abdullah. Zusätzliche Polizisten befriedeten Innenstädte nicht. «Das Töten hört auf, wenn sich die Situation der Menschen ändert. Sie brauchen Jobs und Hoffnung. Fehlt beides, tun sie alles, um zu überleben, selbst töten.»
Wenig hält der Aktivist von strengeren Kontrollen. «Amokläufe lassen sich durch bessere Befragungen der Waffenkäufer kaum stoppen.» Zumal drei Viertel der eingesetzten Waffen legal erworben worden seien. «Bis zur Tat waren die meisten Schützen nie kriminell gewesen, sondern normale Joe-Doe-Every-Day-American-Apple-Pie-Kids.»
Das Gun Violence Archive definiert eine Massenschiesserei als Ereignis, bei dem vier oder mehr Menschen durch eine Schusswaffe sterben oder verletzt werden, unabhängig davon, ob die Tat im häuslichen oder öffentlichen Umfeld geschieht. Letztes Jahr gab es 340 solcher Ereignisse mit 373 Toten. Demnach starben 2,5 Prozent der Opfer von amerikanischer Waffengewalt bei einer Massenschiesserei. Mit der Politik im Weissen Haus korreliert die Anzahl der tödlichen Taten kaum. Im letzten Amtsjahr von US-Präsident Barack Obama – 2016 – zählte das GVA 382 Massenschiessereien, im ersten Trump-Jahr 346. Das bisher blutigste Massaker der Neuzeit geschah am 1. Oktober 2017, als ein Einzeltäter in Las Vegas scheinbar ohne Motiv 58 Personen erschoss. Trump war Präsident. Ein mutmasslich homophober Islamist tötete 2016 in Orlando in Florida 49 Menschen. Obama war Präsident.
Militärische Sturmgewehre müssten verboten werden, heisst es nach Massenmorden. Statistiken der Bundespolizei FBI widerlegen die Behauptung, keine andere Waffe töte mehr Menschen. Zwei Drittel der Opfer von Waffengewalt sterben durch Kugeln aus Pistolen, 3,4Prozent durch Patronen, die halbautomatische Gewehre abfeuern. Schwer zu belegen ist eine direkte Wechselbeziehung zwischen Massenmördern und Waffennarren, die sich gegen strengere Gesetze wehren. Letztere sehen Waffen als Symbol persönlicher Freiheit.
Amerikaner mögen Gewehre und Pistolen. Was sich ansatzweise durch den Gründermythos des Landes erklären lässt, als verängstigte Europäer mit Flinten einen unbekannten Kontinent eroberten, die Eingeborenen vertrieben und Sklaven gewaltsam unterdrückten. Dieser Mythos verhindert eine veränderte Einstellung zu Schusswaffen. Harzig voran kommen Bemühungen mancher Städte, die Waffen den Kriminellen abzukaufen.
Politisch sind striktere Gesetze schwer durchzusetzen. Von drei auf fünf Millionen Dollar hat die NRA ihr jährliches Lobbying-Budget erhöht. Per Veto könnte Trump jede nationale Gesetzesverschärfung stoppen. Da er nächstes Jahr bei den Wahlen die Sympathien der NRA benötigt, würde er das tun.
Seit den 1970er Jahren bemüht sich die NRA, die dritte Gewalt auf ihre Seite zu ziehen und die richterliche Auslegung des zweiten Zusatzes der Verfassung zu ändern. Verabschiedet wurde er am 15. Dezember 1791 und lautet: «Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.»
Mehr als 200 Jahre lag der Fokus auf «wohlgeordnete Miliz». Demnach hätten die Gründerväter das Waffentragerecht eher Soldaten zugeschrieben. Das änderte sich am 26. Juni 2008, als der Oberste Gerichtshof im Fall District of Columbia v. Heller entschied, jeder Einzelne könnte sich auf das Recht berufen, Waffen zu besitzen. Hauchdünn mit 5–4 verhängten neun Bundesrichter das Verdikt. Eine schnelle Veränderung lässt die derzeitige Zusammensetzung des Gerichts nicht erwarten.
Steve Sherman kannte die Verfassung nicht, als er mit 13 eine erste Waffe erwarb. Zwei Jahre zuvor, mit elf, begann er in Cincinnati Drogen feilzubieten. Das Kind bot Crack, Heroin und Kokain an. Es verdiente genug Geld, um seiner Mutter ein Haus zu kaufen. Mit 22 realisierte Sherman, wie viele seiner Freunde wegen der Waren starben. Er stieg auf Marihuana um und war innert weniger Jahre der Hasch-König von Cincinnati. Als ihm einer sagte: «Jetzt bist du der Boss», ergriff ihn panische Angst. Er hielt es nicht mehr aus, ständig nach hinten schauen zu müssen.
Rashid Abdullah holte ihn von der Strasse. Heute, mit 45, führt Sherman in Cincinnati ein Gym namens Hoffnung und versucht, die Spirale der Gewalt zu brechen. Er boxt mit Kids und lässt sie Hanteln stemmen. Mit Sport befrieden will er das Amerika, das den Alltag vieler prägt. Wo Buben sich mit zehn bewaffnen, als Teenager hinter Gitter kommen, nach der Entlassung ein Kind zeugen, noch vor dessen Geburt abhauen, vor zwanzig jemanden töten und bis ans Lebensende weggesperrt bleiben.
«Babys erhalten zu wenig Liebe, deshalb töten sie als Teenager», sagt Sherman. «Eine Knarre in der Hand vermittelt einem Kind zumindest ein bisschen das Gefühl von Stärke.»
Ihn schlug die Mutter, weil sie nicht wusste, wie sie einen Jungen zu erziehen hatte. Sein Sohn werde ihn nie im Knast besuchen müssen, sagt Sherman. Eine Waffe wolle der Junge nicht. «Er spielt lieber mit mir Basketball.»