“Print ist bestimmt nicht tot”

Die kalifornische Künstlerin Martine Syms erkundet Darstellungen des schwarzen Amerikas mit Videos, Performances und Fotografie. Syms erzählt, was das Ende eines Plattenladens in Detroit mit Ringier zu tun hat – und warum sie eine gedruckte Tageszeitung abonniert.

Interview: Peter Hossli

Martine Syms, haben Sie einen Lieblingssong?
Martine Syms: Im vergangenen Monat habe ich immer wieder «Turiya and Ramakrishna» von Alice Coltrane gehört.

Ein Stück Jazz aus dem Jahr 1970. Wie hören Sie es?
Bin ich im Hotel, höre ich es über die Kopfhörer, die an mein Telefon angeschlossen sind. Zu Hause schliesse ich das Telefon am Lautsprecher an.

Gibt es einen Song, den Sie lieber auf Vinyl hören als digital?
Eigentlich ist es genau dieser Song, den ich lieber auf Vinyl ­hören möchte! Fast alle Musik, die vor 2005 aufgezeichnet worden war, wurde anders gemischt. Deshalb tönt ältere Musik besser auf Vinyl. Die Musik der letzten zehn Jahre wurde für das Tele­fon und miese Lautsprecher gemischt.

Ist es überhaupt wichtig, wie man Musik hört?
Für mich schon. Für mich ist Musikhören eine eigenständige Aktivität. Ich möchte Musik laut hören, nicht durch Kopfhörer. Ich möchte mich dem Sound komplett hingeben.

Für den Jahresbericht von Ringier haben Sie einen Plattenladen in Detroit besucht, der nach 52 Jahren schloss. Was hat Sie daran gepackt?
Als ich in Chicago lebte, bin ich oft nach Detroit gefahren, um Platten zu kaufen. Detroit hat eine grossartige Musikgeschichte. Vor zwei Jahren hat mir ein Freund vom Simpson’s Record Shop erzählt. Seither bin ich besessen davon. Im Laden sah ich ein ­Foto, das Inhaberin Dorothy Simpson und die Jackson Five zeigt. Ich habe sie danach gefragt, worauf sie mir die Geschichte des Ladens erzählte.

Und warum passt ihre Geschichte zum Geschäftsbericht von Ringier?
Ringier wollte etwas, das zur Verlagsbranche passt. Für mich war es klar, dass der Plattenladen nicht lange überleben wird. Es gibt Parallelen zu einem Verlagshaus, das sich sehr schnell wandeln muss. Als ich erfuhr, dass der Laden Ende 2018 zugeht, wusste ich, dass ich dieses Projekt umsetzen musste.

Ein Geschäftsbericht über ein Geschäft, das eingeht: das ist eine Provokation!
Natürlich! Zum Glück ist Ringier sehr offen. Es zeigt sich schon, dass Künstler jeweils den Geschäftsbericht gestalten. Zudem unterscheiden sich Ringier und der Plattenladen sehr. Beide leiden zwar unter einer Branchenkrise. Aber Ringier wandelt sich. Die Firma sucht nach neuen Arten, Geschichten zu erzählen und sie zu verbreiten.

Wie dringend war für Sie das Projekt?
Sehr dringend! Ich liebe Musik. Und es gibt nicht viele Frauen, welche Plattenläden führen, geschweige denn solche, die das seit 1966 tun.

Dorothy Simpson führte den Plattenladen, bis sie 92 Jahre alt war. Was faszinierte Sie an ihr?
Ihr bescheidener Umgang mit ihrer Leistung. Menschen im Mittleren Westen sind demütig. Sie leisten unglaubliche Dinge, aber sie reden kaum darüber. Sie hat es einfach getan. Es geht ihr um die Arbeit, nicht um die Aufmerksamkeit.

Es gibt Plattenläden, die erfolgreich wieder Vinyl einführen. Warum gelang dies Dorothy Simpson nicht?
Ihr Geschäftsmodell war anders. Es ging ihr vor allem um das Quartier, das sie mit Musik versorgte. Früher ging man in einen Laden und bestellte die Platte, die man gerne hatte. Heute kauft man sie online. Niemand will mehr zwei Wochen warten. Um in der digitalen Welt mit einem analogen Produkt erfolgreich zu sein, muss man zu einem Dienstleister werden. Ein Plattenladen muss heute eine Galerie sein: spezialisiert, ausgewählt, betreut von einem Kurator. Es ist nötig, den Kunden etwas Wertvolles zu bieten.

Was bedeutet das für ein Verlagshaus wie Ringier?
Das Unternehmen muss herausfinden, was es seinen Kunden ­offerieren soll, wie es dem Publikum dienen kann.

Analog oder digital?
Print ist bestimmt nicht tot. Ich lese nur noch gedruckte Zeitungen. Letztes Jahr habe ich wieder eine Zeitung abonniert, da ich viel zu viele Nachrichten online las. Eine Zeitung ist eine Beschränkung. Das lese ich – und nicht mehr.

Sie selbst sind eine Verlegerin. Warum setzen Sie auf gedruckte Publikationen?
Ein gedrucktes Buch ist für mich immer noch ein hervorragendes Format. Es erreicht ein Publikum, das andere nicht erreichen. Es ist eine Beschränkung, ähnlich wie ein Film. Beide erlauben eine Eins-zu-Eins-Interaktion mit den Zuschauern und den Lesern. Es gibt eine Sequenz – und eine beschränkte Zeit.

1966 war ein wichtiges Jahr ­für die Schwarzen in Detroit. ­Warum florierte damals ihre Kultur?
Detroit lag im Zentrum der Bürgerrechtsbewegung. Es gab in der Stadt eine Anzahl von Aufständen gegen rassistische Gewalt, welche schwarzen Quartieren galten. Es gab blutige Strassenschlachten. Viele Quartiere wurden zerstört. Daraus entstand ein ökonomisches wie kulturelles Bedürfnis, sich auszudrücken. Zudem war es in Detroit möglich, kanadische Radiostationen zu empfangen. Diese spielten Motown, und sie halfen, das amerikanische Radio zu de-segregieren.

Dorothy Simpsons Plattenladen war ein beliebter Treffpunkt für Schwarze. Was wird ihn ersetzen?
Vermutlich nichts. Es ist ein herber Verlust. Ich war sehr interessiert an diesem gemeinschaft­lichen Aspekt des Ladens. Es geht mir mehr um die Menschen als um die Musik. Es ist wichtig, einen dritten Raum zu haben, wo sich Menschen begegnen können, neben dem Daheim und ­der Arbeit. Ich zum Beispiel habe das nicht, da ich nicht in die Kirche gehe.

Sie haben Ringiers Geschäftsbericht wie ein klassisches Magazin gestaltet. Warum?
Weil ich Magazine immer gemocht habe. Sie haben etwas Erzählerisches. Magazine haben mir jene Geschichten erzählt, in denen ich vorkommen wollte.

Warum heften Sie die Quittung einer alten Kasse auf den Titel des Geschäftsberichtes?
Ich mag es, in meiner Arbeit Dinge zu verdecken, zu verstecken, bevor ich etwas zeige. Die Quittung sagt alles, und gleichzeitig vernebelt sie es.

Sie haben Gospel-Musik im Laden aufgenommen, den Text transkribiert und auf vielen Seiten am unteren Rand des Geschäftsberichtes platziert. Warum?
Um das Gefühl von Dauer zu erzeugen. Im Buch entsteht eine Parallele zwischen Zeit und Raum. Mit dem Gospel erhält man ein Gefühl dessen, was passiert ist, als ich den Laden besucht habe.

Wer den Geschäftsteil lesen will, muss Seiten aufreissen. Warum lassen Sie es zu, dass Ihre Arbeit zerstört wird?
Es ist meine paradoxe Art. Und es zeigt, was das Leben ist. Wenn man etwas auspackt, bricht man ein perfektes Siegel. Hier kann man den Text nicht lesen, ausser man bricht das Siegel.

Wir hören noch immer Musik aus den 1960er-Jahren. Werden unsere Grosskinder die Musik von heute in 50 Jahren noch hören?
Einen Teil davon. Es wird immer grossartige Künstler geben. Wir hören heute ja nicht mehr alles aus den Sixties. Wer aber ausdrücken kann, was in seiner Zeit geschieht, kann etwas schaffen, das dauerhaft ist.