“Greenpeace müsste sich für die Kernkraft starkmachen”

Perez ist die erste Frau, die sich in einem Schweizer Kernkraftwerk zur Pikettingenieurin ausbilden lässt. Sie ist überzeugt, ihre Branche hat eine große Zukunft vor sich.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

Kaum ist die Türe ins Schloss gefallen, klingelt im Kommandoraum des Kernkraftwerks das Telefon. Die Wache. Sofort müssen Fotograf und Reporter den eben betretenen Saal wieder verlassen. Ein Fehler beim Registrieren. Diskussion zwecklos, Fehler werden keine toleriert, die Wächter tragen geladene Pistolen. Die Schaltzentrale des KKWs Gösgen im solothurnischen Dorf Däniken betritt nur, wer das wirklich darf.

Hier, in dem futuristisch anmutenden, vierzig Jahre alten Saal arbeitet Laura Perez, 26. Als erste Frau der Schweiz lässt sich die Bündnerin zur Pikettingenieurin ausbilden. Nach rund neun Jahren soll sie die Anlage in- und auswendig kennen, damit sie im Fall einer Störung oder eines Notfalls den nötigen Einsatz leiten kann.

Ihre Berufswahl birgt Risiken. Was die ETH-Absolventin lernt, kann sie einzig in Gösgen anwenden, da jedes KKW leicht anders funktioniert.

Als Sackgasse sehen manche die Branche. Nach der Nuklearkatastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 beschloss die deutsche Regierung den Ausstieg aus der zivilen Kernkraft. Die Schweiz will die KKWs zwar am Netz belassen, aber keine neuen mehr anschließen. «Wir werden bei der Kernenergie bleiben», behauptet Laura Perez. «In vielen Ländern entstehen derzeit neue Anlagen.» Geplant sind weltweit 131 neue Kernkraftwerke, im Bau befinden sich 57. Allein China will 40 neue KKWs ans Netz bringen.

Laura Perez redet über den heißen Sommer. «Unser dringendstes Problem ist der Klimawandel», sagt sie. «Die durchschnittliche Temperatur darf bis 2050 nicht um mehr als zwei Grad ansteigen.» Das gehe durch eine Reduktion des C02-Ausstoßes, also weniger Verbrennung von Kohle und Erdöl. Als Alternative sieht sie die Kernkraft.

»Greenpeace müsste sich für die Kernkraft starkmachen«, sagt sie. «Wir sind fast C02-frei.» Lastwagen karren die Brennelemente nach Däniken. Sie fährt im Auto zur Arbeit. Beim Uranabbau gibt es Emissionen. «Aber sonst sind wir sauber.»

Das Problem mit der Registrierung ist gelöst, der fensterlose Kommandoraum zugänglich. Laura Perez trägt Sicherheitsschuhe und ihre Arbeitsuniform: bordeauxrotes T-Shirt, graue Hose, bordeauxrot-graue Weste, worauf ihr Name prangt.
Das Haar hat sie zum Zopf geflochten. Im weichen Bündner Dialekt erklärt sie die blinkenden Lämpchen und analogen Anzeigen. Die Kühltemperarur geben sie wieder, den primären und sekundären Druck, die Leistung des Generators. Erdbebensichere Bildschirme zeigen die Reaktorleistung an.

Rund um die Uhr ist der Kommandoraum besetzt, auch an Weihnachten und während des Finales der Fußballweltmeisterschaft. Leise rieselt Pop aus Lautsprechern. Sonst lenkt nichts von den Lämpchen ab. Eine «große Monotonie-Resistenz» müsse mitbringen, wer hier arbeite, sagt der diensthabende Schichtchef, der uns auf dem Rundgang begleitet. Acht Stunden lang könne nichts passieren — und doch müsse man stets bereit sein, kleinste Abweichungen zu bemerken.

Es gab Diskussionen, bevor Perez anfing. Ob es Frauen brauche in einer der letzten Männerbastionen der Schweizer Arbeitswelt. Auf der Schicht bringe eine Frau Unglück, hieß es in den Pionierjahren der Kernkraft, ähnlich wie Matrosen sich das auf Schiffen einreden und Mineure im Tunnelbau. Die lange Ausbildung zur Pikettingenieurin sei nicht mit einer Familie vereinbar.
Bis ins Jahr 2000 war Schweizerinnen die Nachtarbeit untersagt.

Für sie sei es einfacher als für die Männer, sagt Perez. «An der ETH war es normal, eine Frau unter vielen Männern zu sein.» Offenen Widerstand erlebe sie in Gösgen nicht, zuweilen subtilen. Einige nörgelten, als ein Männer-WC in eine Frauen-Garderobe umgebaut wurde. Bei ihrer ersten Reaktorrevision fiel ein Werkzeug zu Boden. «Frauen beim Reaktor bringen Unglück», fuhr sie einer an.

Laura Perez wuchs im bündnerischen Bonaduz auf, wo Vorder- und Hinterrhein zusammenfließen. Der Großvater, ein Bauzeichner, wanderte aus Spanien in die Schweiz ein. Ihr Vater ist Bauingenieur, die Mutter studierte Architektur. Nach der Matura in Chur — Schwerpunkt: Chemie, Physik, Mathematik — schrieb sie sich an der ETH Zürich für Maschinenbau ein. Unter den 600 Studierenden ihres Jahrgangs waren 30 Frauen. In Gruppenarbeiten war sie meist die einzige Frau.

»Da musst du dich halt durchsetzen.« Gezielt fördert die ETH Frauen, um den Fachkräftemangel in technischen Berufen zu lindern.
Perez nutzte die Angebote kaum. «Meinen Weg will ich schon allein finden.»

Allzu schwierig sei es nicht, in der Schweiz Ingenieurin zu werden. «Nimm dir, was du möchtest, warte nicht, bis dich jemand fördert», rät sie. Sie schrieb für die Studentenzeitung, ihr Chefredaktor empfahl ihr den Schnuppertag in Kerntechnik an der EPFL in Lausanne. Die Experimente und Reaktor-Typen begeisterten sie, sie hatte ihr Master-Studium gefunden.

«Mir war klar: Das ist cool.» Was ist «cool» an dem, was andere negativ beurteilen? «Dass es möglich ist, aus etwas so Kleinem extrem viel Energie zu gewinnen», sagt Perez und formt die Hände zu einer Kugel. «Ein Reaktor erzeugt ein ganzes Jahr sauberen Strom mit diesem Häufchen Brennstoff.» Wer physikalisch begreife, wie Energie bei der Kernspaltung freigesetzt werde, «der staunt nur noch».

Ihre Begeisterung teilen wenige. Ständig muss sie sich rechtfertigen. Klar, ihr Freund unterstütze sie. «Aber es gibt wenige, die sagen, Hey, cool, du arbeitest im KKW.» Kommilitonen, die solches nicht aushielten, wechselten die Branche. Erzähle sie auf einer Party, was sie mache, folge oft die Frage, ob sie nachts grün leuchte. Und — leuchtet sie grün? Sie kontert: «Bei uns leuchtet nichts grün, Brennstäbe leuchten blau!»

Durch den Beinaheunfall im schwedischen Atommeiler Forsmark 2006 entdeckte sie die Kernenergie. Sie war 13, las darüber in der Zeitung, hatte Angst, drehte einen Zirkel auf einer Europakarte. Der Radius offenbarte: Wäre in Schweden etwas Gravierendes passiert, läge die Schweiz im verstrahlen Gebiet. Was zu Forsmark in der Zeitung stand, reichte ihr nicht. Sie wollte wissen, wie ein KKW funktioniert. In der Bibliothek erfuhr sie, dass Bündner Wasserkraftwerke nicht allen Strom erzeugen. Dass vier Schweizer Kernkraftwerke in Betrieb sind und das europäische Stromnetz miteinander verbunden ist.

Mit dem angepeilten Umstieg von fossiler zu erneuerbarer Energie würden KKWs wichtiger werden, sagt sie. Windräder und Solarzellen begrüßt sie. «Beide sind aber vom Wetter abhängig, beanspruchen viel Platz, produzieren manchmal zu viel, dann zu wenig Strom.» Das mache die Netze instabil. Die Herstellung der Solarzellen sei nicht sauber. «Die Ökobilanz eines KKWs ist besser als bei Fotovoltaik.» Kann sie es verantworten, radioaktiven Abfall zu produzieren, der Jahrtausende strahlt? «Strahlt etwas lange, ist die Radioaktivität eher gering», antwortet sie. «Für mich ist das ohnehin kein Abfall, sondern ein Rohstoff, den man aufbereiten und zu 95 Prozent zur weiteren Stromnutzung verwenden kann.» Aus dem Rest ließen sich seltene Erden gewinnen.

Einen GAU fürchtet sie nicht, den größten anzunehmenden Unfall. In Gösgen werde jedes erdenkliche Risikoszenario durchgespielt und abgesichert. »Fällt Ingenieuren etwas Neues auf, machen sie sich Gedanken, wie sie darauf reagieren könnten.« Reagieren muss sie als künftige Pikettingenieurin. Bei Störungen unterstützt sie den Schichtchef und den Chef der Wache.

Bei Notfällen bildet sich innert weniger Stunden ein Notfallstab. In dieser Zeit übernimmt die Pikettingenieurin die Einsatzleitung. «Ein Pikettingenieur bewahrt Ruhe und Übersicht», sagt der stellvertretende Abteilungsleiter Betrieb, Marcel Haller, einer von 14 Pikettingenieuren in Gösgen. «Er tritt einen Schritt zurück und schaut die Anlage übergeordnet an.» Hat sich der Notfallstab gebildet, hält der Pikettingenieur den Kontakt zum Eidgenössischen Nuldearsicherheitsinspektorat (Ensi), der Aufsichtsbehörde für nukleare Sicherheit im aargauischen Brugg.

Als Störung gelten einfache betriebliche Situationen. Ein Notfall kann ein Erdbeben sein, Personen, die in die Anlage eindringen, kriegerische Handlungen. Zu einem Notfall kam es in einem Schweizer KKW noch nie. Erlebt hat Haller aber schon einige — im Simulator. «Dabei vergisst man schnell, dass es eine Übung ist.» Er stelle ruhige Teamplayer mit einem Flair für Technik ein, nicht den Bruce-Willis-Typ, der die Welt allein retten will. «Man muss logisch und faktenbezogen denken und alles kritisch hinterfragen», sagt er. «Ungeeignet sind Menschen, die sich auf ihr Bauchgefühl verlassen.» Für Notfälle werde sie bereit sein, sagt Laura Perez. Aber sie treibe etwas anderes an: «Ich will das Kraftwerk bis ins kleinste Detail verstehen.» Zum Ausgleich paddelt sie im Kajak, liest, bäckt, näht, schreibt noch immer für die Studentenzeitung.

Und Kinder? «Vielleicht einmal.» Würde sie schwanger werden, werde sie vermehrt im Büro sitzen müssen. Nicht wegen der Strahlung, sondern weil sie im Maschinenhaus nicht mehr schwer heben darf «Eine Krankenschwester kriegt im Spital eine höhere Strahlendosis ab als ich im KKW.»