Von Peter Hossli (Text) und Daniel Kellenberger (Fotos)
Abbruch! Wegen Gips und Luft. «Hängen können wir so nicht», sagt Sammlungsmanagerin Rahel Blättler (36). «Sonst stürzt die Wand mitsamt den Bildern zu Boden.»
Ein zweiteiliges Werk der amerikanischen Malerin Nicole Eisenman (52) soll die Eingangshalle des Medienparks von Ringier Axel Springer beleben. Grosse rechteckige Ölgemälde, je fast fünf Meter lang und zweieinhalb Meter hoch, 60 Kilogramm schwer. Und sehr wertvoll.
Bevor er bohrt, klopft Cheftechniker Markus Edelmann (52) die dafür vorgesehene Wand ab. Sie liegt hoch über dem Pult der Portiere. Rasch bemerkt er, was die Architekten ihm nicht gemeldet hatten: Ein Zentimeter Gips sowie sechs Zentimeter Hohlraum decken den Ziegelstein ab. «Er braucht eine andere Hängevorrichtung», sagt Edelmann.
Rasch fällt er einen Entscheid: «Wir verschieben die Hängung von Eisenman auf den nächsten Samstag.»
Kunst im Kühlwagen
Keinerlei Hektik löst der Abbruch aus. «Wer Kunst sammelt und sie ausstellt, weiss: das braucht Geduld und äusserste Vorsicht beim Umgang mit den Werken», sagt Kunsthistorikerin Blättler. «Hektik kann zu teuren Fehlern führen.» Es ist ihre Aufgabe, «alles zu unternehmen, um die Kunst zu schützen».
Der erste Dienstag im Mai in Altstetten, einem Quartier am Westrand der Stadt Zürich. An einer Nebenstrasse thront der Medienpark, ein moderner Glas-Betonbau. Er beherbergt seit April die Redaktionsbüros fast aller deutschsprachiger Magazine von Ringier Axel Springer Schweiz. Auf zwei grossflächigen Stockwerken erstellen rund 600 Personen Hefte wie «Tele», «Bilanz», «Schweizer Illustrierte», «Beobachter» oder die «GlücksPost». Die Redaktoren der «Handelszeitung» berichten über schwarze und rote Zahlen, die Redaktorinnen der «Fashion Factory» über rote und schwarze Roben.
Zeitgenössische Kunst der Sammlung der Ringier AG soll sie alle zum Innehalten anregen. 48 Werke hat das Kuratoren-Team dafür ausgewählt. Für den ersten Stock mehrheitlich Fotografie, für den zweiten Malerei, für die Chefetage beides.
Umsetzen will es einen zentralen Anspruch von Verleger und Sammler Michael Ringier (68): Die Werke der Kollektion – rund 3000 – sollen sichtbar werden und Angestellte erfreuen.
Was im Medienpark bald sichtbar ist, harrt heute Morgen noch im Lastwagen von Möbel-Transport AG. Die Firma mit Sitz in Schlieren ZH ist spezialisiert auf Kunst. Damit diese unversehrt bleibt, sind die Räder des Lasters gefedert, lässt sich der Laderaum kühlen und heizen. Vor Transporten wird das Verpackungsmaterial der geforderten Temperatur angepasst.
Bis zu drei Meter hohe Werke finden Platz. Was heute nötig ist. Vorwiegend grosse Gemälde und Fotos gelangen in den Medienpark. Zum einen hat es grosse Wände. Zudem ist es sicherer. Mit einem drei Meter hohen Gemälde marschiert so rasch keiner raus.
Wovon ohnehin abzuraten ist: gestohlene zeitgenössische Kunst ist auf dem Schwarzmarkt kaum abzusetzen. Ein russischer Oligarch mag geklaute Rembrandts für eine Yacht erwerben. Grelle Fotografie der Genfer Künstlerin Sylvie Fleury (55) dürfte er kaum schätzen. Bei zeitgenössischer Kunst ist zudem genau dokumentiert, wem was gehört.
Die Kunstpacker legen Metallplatten auf den Boden, damit der nicht mitsamt den Werken einbricht. Dann hieven sie die Kunst vom Last- auf mit Teppich ausgelegte Bilderwagen. Gerahmte Fotos sind mit Plastik umhüllt, Gemälde mit Pergamin und Luftpolsterfolie, auf Alu aufgezogene Fotos mit Karton.
Es geht rasch, jeder Griff sitzt. Nur wenige Worte fallen. «Ist der zu hoch?» – «Sollte gehen.» – «Wir müssen auspacken.» – «Na klar.» – «Flach?» – «Nützt nichts, er ist quadratisch.» – «Sicher?» – «Ja.» – «Dann tragen wir ihn rein.»
Die Nase rümpfen
Nach einer Stunde stehen sämtliche Werke in den Gängen. Sammlungsmanagerin Blättler nimmt Inventar. Jedes Kunstwerk hat einen Titel, eine Nummer, einen festen Platz im Ringier-Lager ausserhalb von Zürich.
Nichts fehlt. Nun bringen Techniker Edelmann und sein Team die Werke zu den vorgesehenen Orten, stellen sie auf Styropor, damit weder Werk noch Teppich Schaden nehmen.
Die «Pyramide» des Schweizer Duos Fischli/Weiss steht in der Redaktion der «Schweizer Illustrierte».
Zur «Fashion Factory» stellen die Techniker die dreiteilige Fotografie «The Magazine GRP» des Künstlerduos Clegg & Guttmann. Es zeigt einen etwas steifen Verwaltungsrat. «Passt das wirklich?», fragt eine frech gekleidete Redaktorin. Und rümpft die Nase. Irgendwie ist ihr das zu männlich.
Die Techniker greifen sich die grasgrüne Fotografie «jpeg pk01» des deutschen Künstlers Thomas Ruff (59). Ein «Joker», erklärt Sammlungsmanagerin Blättler. Ein Werk ohne fixen Platz, das nur aufgehängt wird, wenn ein anderes rausfällt.
Sie legen es kurz auf den Boden, «was eigentlich verboten ist», sagt Edelmann. «Aber der Teppich ist neu, er hat noch keine Partikel.»
Überraschungen im Raum
Es ist Mittwochmorgen. Jedes Werk steht nun dort, wo es hängen soll. Arthur Fink (26) geht durch den Medienpark. Auf Wände und Räume richtet der Assistenzkurator der Sammlung Ringier den Blick. Er hat die Kunst am Computer ausgewählt. Nun sieht er sie erstmals im Raum. «Und im Raum gibt es Überraschungen.»
Die Fotos von Clegg & Guttmann? Die eine Redaktorin als «irgendwie zu männlich» beschrieb? «Wirken deplatziert, sie passen von der Ästhetik her nicht hierher», sagt Fink – und lässt sie verpacken.
Die «Pyramide» von Fischli/Weiss? «Zu klein, sieht verloren aus, da braucht es etwas Kräftigeres.» Zu fade. «Struktur und Farbe des Teppichs schlucken den Sand vor den Pyramiden.»
Er lässt sie woanders hängen und zieht den Joker. «Bringt den Ruff», ein grosses Bild, unscharf, verpixelt und nicht ganz klar, ob es echt ist. «Es ist Metafotografie», sagt Fink. «Ein Bild, das perfekt in ein journalistisches Umfeld passt.» Eben, verpixelt und nicht ganz klar, ob es echt ist. «Es stellt die Frage: was ist Fotografie?»
Fink und Blättler stehen vor jedes Werk und überlegen, ob es passt. Es ist ein behutsamer Prozess ohne Hast. Techniker tragen auf, stellen hin, tragen weg. Kurator und Managerin sagen knappe Sätze. «Eindeutig besser», sagt Fink. «Ist das definitiv?», fragt eine Redaktorin, die hier arbeitet. Das Bild gefällt ihr. «Ist definitiv, jetzt geschieht etwas zwischen Raum und Werk», sagt Fink.
Der Joker passt
Darum gehe es ihm letztlich, «dass ein Bild im Raum seinen Platz findet». Das gelingt ihm mit dem Auge und dem Bauchgefühl. «Erklären kann ich es nicht, ich sehe es.»
Fink ist jung, studiert an der Berliner Humboldt Universität, und ist vielleicht deshalb geeignet, zeitgenössische Kunst zu zeigen. Sie ist schnelllebig. Sein muss sie: jung!, frisch!, cool!, bissig!
Fink geht ein paar Schritte zurück. «Mitten wir es ein?», fragt er. «Oder ein paar Zentimeter nach rechts?» Edelmann verschiebt es nach rechts. «Ah, der Lichtkegel beeinflusst es negativ.» Also zurück zur Mitte. «Gänzlich anders» sei es, ein Büro wie den Medienpark mit Kunst zu beleben oder in Museen zu hängen, sagt Fink. «Das Licht im Museum ist für Kunst gesetzt, hier für Menschen, die arbeiten.»
Daher sei er im Medienpark zusätzlich Innendekorateur. PET-Sammler kommen ihm in die Quere, Behälter für Altpapier, Möbel, die Kaffeemaschinen. «Sofas sind die natürlichen Feinde der Kunst», sagt Fink. «Von der Position her ist der Ruff perfekt, mittet ihn ein.»
Sind 1,43 besser als 1,45?
Nur: Auf welcher Höhe liegt die Mitte? Weltweit setzen Kuratoren die Bildmitte irgendwo zwischen 1,40 und 1,50 Metern. «Mir gefällt 1,43 Meter», sagt der eher schlaksige Fink. «Ich bin gross, Michael Ringier noch grösser, vermutlich mag er es etwas höher als ich.»
Ob Layouter oder Chefinnen, Reporterinnen oder Bildredaktoren – sie alle sollen von visuellen Reizen aus dem Trott gerissen werden. «Ablenken und anregen», sagt Fink.
Für wen er auswählt, vergisst er nie. Jedes Werk aus der Ringier-Sammlung könne er im Medienpark nicht zeigen. Nicht alle seien sich gewohnt, so oft zeitgenössische Kunst zu betrachten wie er. Zuweilen frage er sich: Könnte ein Werk die Gefühle eines Mitarbeiters verletzen? Ist es pornografisch? Genügend zugänglich?
Selten die Notbremse ziehen
Das letzte Wort haben Michael Ringier und die langjährige Kuratorin der Sammlung, Beatrix Ruf (57), die Direktorin des Stedelijk Museums in Amsterdam ist. Beide erhalten Listen, machen Anmerkungen, winken durch. Selten ziehe jemand die Notbremse.
Fink ist seit 2015 für die Ringier-Sammlung tätig. Damals half er, das 20-jährige Jubiläum zusammenzustellen. Bereits als Teenager packten ihn Literatur und Philosophie. «Das führte mich in die Kunst.»
Etwas ironisch bezeichnet er sich als «Bilder-Junkie», er möge den Umgang mit realen Objekten. «Es bereitet grossen Spass, ein Bild um wenige Zentimeter zu verschieben und zu sehen, was im Raum passiert.»
Er steht in der Redaktion der «GlücksPost», blickt auf eine Wand, an die «Guitar #5» des kanadischen Künstlers Steven Shearer (50) angelehnt ist: Tausende kleiner Fotos, auf denen Menschen mit Gitarren zu sehen sind. «Als hätte jemand eine Google-Suche mit dem Begriff ‹Gitarre› gemacht», so Fink. «Perfekt für einen Newsroom, wo Fragen nach dem richtigen Bild zentral sind.»
Ursprünglich war Shearers Werk woanders vorgesehen. Dort scheint die Sonne hin, und UV-Strahlen bleichen die Fotopapier-Farben aus.
Die Höhe? 1,43 oder 1,45 Meter? Zwei Techniker halten «Guitar #5» hoch. «Entscheide schnell», sagt Cheftechniker Edelmann. «Es ist extrem schwer.» Sie hieven es auf 1,43 Meter. «Perfekt, so machen wir es», sagt Fink. «Stellt es ab.»
Profanes neben Sakralem
Oft funktioniere, «was man einfach mal so hinstellt», sagt Fink. Blättler und er stehen vor vier zeitgenössischen Gemälden im zweiten Stock. Sie beginnen sie umzustellen. Es ist ein Prozess mit kurzen Sätzen. «Das sieht nicht gut aus.» – «Nehmen wir den Avery am Schluss?» – «Ist das ein Bruch?» – «Von der Form her ist das am spannendsten.» – «Der Kontrast zum Gelb gefällt mir.» – «War es am Anfang nicht am besten?» – «Ja, wir machen es wie am Anfang.» Sie drehten sich im Kreis, und das sei gut. «Wir haben ja Zeit», sagt Fink. «Es ist belebend, etwas Unökonomisches zu tun.»
Drei Tage später hängen nur drei der vier Bilder. Fink entschied sich nach einer Nacht: eines war zu viel.
Intuitiv suchte er die Werke für den Medienpark aus. «Ich würde lügen, wenn ich sage, ich hätte eine klare Agenda», sagt er. «Die gezeigte Malerei ist zeitgenössisch und vital, oft erhält sie etwas Surreales und Fantastisches.»
Anders die Fotografie, sie müsse selbstreflexiv sein. «Fotos, die sich mit Medien beschäftigen», sagt Fink. Wie so viele der Ringier-Sammlung.
Fünf Werke von Heimo Zobernig (59) liess der Kurator aus dem Lager kommen, vom bekanntesten zeitgenössischen österreichischen Künstler. «Er behandelt letzte offene Fragen, was ein abstraktes Bild sein kann», sagt er. Er liess vier hängen. Die Bildmitte? Für Zobernig seien 1,40 Meter ideal.
Was passiert mit dem Behälter für die leeren PET-Flaschen? Fink stellt ihn neben die Zobernigs. «Fantastisch, das Sakrale neben dem Profanen.»
Es ist Samstagmorgen. Zwei Stunden lang haben Gerüstebauer ein dreistöckiges Gestell in der Eingangshalle des Medienparks aufgebaut. Der einst vorgesehene Scherenlift wäre zu schwer und würde den heiklen Boden wohl beschädigen.
Der gefederte und gekühlte Laster von Möbel-Transport steht vor dem Haupteingang. Eine Wasserwaage wirft einen roten Laserstrahl auf die weisse Wand, auf der Gips und Luft auf Backsteine treffen.
Lautlos drillt der Bohrer durch Gips, kreischt schrill beim Backstein. Ein Handwerker versenkt beim roten Laserstrich sechs 14,5 Zentimeter lange Armierungseisen. Problemlos hält jede 20 Kilogramm Gewicht. Jeder der beiden Teile von Nicole Eisenmans Diptychon «Progress: Real & Imagined» wiegt 60 Kilogramm.
Sechzehn Hände
Ihn zu hängen ist heikel, verlangt Können und Konzentration. Acht Männer tragen das erste Gemälde aus dem Lastwagen. Sie stellen es zwischen Gerüst und Wand. Zwei steigen ganz nach oben, zwei in die Mitte, vier hieven es unten stehend beim «Jetzt» vom Boden. Wenige Worte fallen in den dreissig Sekunden, in denen es von sechzehn Händen geführt in sieben Meter Höhe gelangt. «Okay.» – «Halte die Balance.» – «Vorsicht.» – «Nicht so nahe am Gerüst.» – «Langsam, langsam.» – «Moment.» – «Ich habs.» – «Passt.»
Nachdem das zweite Bild hängt, essen die Packer belegte Brote. Gerüstebauer zerlegen am Nachmittag das Gestell. Die Kunst in den Grossraumbüros – insgesamt 31 Werke – hängt. Nun kann sie ablenken.