«Versöhnung ist die Aufgabe des Volks»

Zwei schweizerisch-türkische Doppelbürger streiten über den Ausgang der Verfassungsabstimmung in der Türkei. Der Schaffhauser Zafer Aksoy (55) hat mit Ja gestimmt, der Aargauer Hakan Parlak (42) mit Nein.

Interview: Peter Hossli

Herr Aksoy, die Türkei sagt Ja zur neuen Verfassung. Was hat Ihre Seite richtig gemacht?
Zafer Aksoy:
Gewonnen haben wir dank der Hilfe der Politiker und der Medien im Westen. Überrascht bin ich, wie knapp es ausgefallen ist.
Hakan Parlak: Für mich ist es keine Niederlage, sondern ein Unentschieden. Alle grossen Städte haben schliesslich Nein gesagt.

Warum sind Sie trotzdem unterlegen?
Parlak: Es war ein ungleicher Abstimmungskampf. Präsident Erdogan hat den gesamten Staatsapparat eingesetzt und Werbung auf Bussen, Taxis und Schiffen geschaltet. Zudem sind 90 Prozent der Medien unter staatlicher Kontrolle. Wir erhielten 45 Stunden Sendezeit, die Befürworter 485 Stunden.
Aksoy: Mich überrascht das Nein in Istanbul und Ankara. Demnach haben wir in der Türkei einen Stadt-Land-Graben.

War die Abstimmung fair?
Parlak: Nein. In der Schweiz verlief alles zu 100 Prozent sauber. Der Abstimmungstag in der Türkei aber war kurios. Plötzlich waren kurdische Beobachter nicht mehr zugelassen. Dann liessen die Behörden Wahlzettel ohne Stempel zu. Mitten in der Abstimmung wurden die Regeln geändert.
Aksoy: Für Manipulationen hatte es zu viele Wahlbeobachter. Ich habe die Kontrollen in Zürich gesehen. Sie waren streng.
Parlak: Was in Zürich galt, galt nicht in der Türkei! Es geht nicht, die Regeln zu ändern.
Aksoy: Das stimmt. Aber es ist ja nicht klar, ob abgelehnte Stimmen Ja- oder Nein-Stimmen gewesen wären.

Reicht Ihnen die Höhe des Ja, um zu jubeln?
Aksoy: Das knappe Resultat enttäuscht mich. Die meisten Türken wollten die neue Verfassung, aber viele lehnten das Präsidialsystem ab. Mein Verdikt lautet daher: Trotz Präsidialsystem ist die erste demokratische Verfassung der Türkei angenommen worden. Das führt zu mehr Stabilität im Land.
Parlak: Stabilität? Das Ja war noch nicht einmal offiziell, da hat Erdogan bereits angekündigt, notwendige Schritte einzuleiten, um die Todesstrafe einzuführen.

Ist das ein Rückschritt in düstere Zeiten?
Parlak: Es riecht nach Rachejustiz. Vor allem bedeutet es das Ende des EU-Beitritts.
Aksoy: Angebracht ist die Todesstrafe in der Militärjustiz, etwa nach einem Putsch. Aber nicht für zivile Verbrechen.
Parlak: Die USA zeigt: Die Todesstrafe schreckt nie ab. Generäle werden trotz Todesstrafe weiterhin putschen.

Ist der EU-Beitritt der Türkei nach dem Ja gescheitert?
Parlak:
Der ist seit langem gescheitert, jetzt ist es offiziell. Die Werte der neuen Verfassung sind nicht mit EU-Werten vereinbar.
Aksoy: Die EU ist ein sinkendes Schiff. Die Türkei will da seit sechs Jahren nicht mehr rein.

Was bedeutet das Ja für die Türkei?
Aksoy: Mehr Stabilität. Der Präsident kann fortan für mehr als nur Landesverrat juristisch belangt werden. Zudem ist es das endgültige Ende der Militärjustiz.
Parlak: Die Militärjustiz ist seit 15 Jahren nicht mehr existent.
Aksoy: Hätte der Putsch im letzten Jahr geklappt, wäre sie wieder aktiv geworden.
Parlak: Die AKP wird zur Staatspartei.
Aksoy: Nein, das Volk steht hinter der AKP …
Parlak: … Zu bloss 51 Prozent. Stark zunehmen werden Korruption und Vetternwirtschaft. Gut gebildete und säkulare Türken verlassen das Land. Die Justiz gibt ihre Unabhängigkeit auf. Die schlimmste Folge ist, dass wegen des knappen Resultats das Land extrem gespalten ist. Das macht mich traurig. Ich hätte mir ein Resultat mit 60 Prozent Nein gewünscht.
Aksoy: Mir wäre ein deutlicheres Resultat ebenfalls lieber gewesen. Aber die Türkei war schon immer ein gespaltenes Land.
Parlak: Wir könnten ja etwas hinzulernen!

Nötig wären jetzt Konsens und Versöhnung. Kann Erdogan das leisten?
Parlak:
Nein.
Aksoy: Erdogan muss das nicht tun, es ist die Aufgabe des Volks.
Parlak: Erdogan lebt von der Polarisierung. Polarisiert er, gewinnt er Stimmen.
Aksoy: Erdogan gibt den Türken, was sie wollen. Sonst hätte er ja nicht die letzten zwölf Urnengänge gewonnen. Das Volk ist nicht wegen Erdogan polarisiert. Erdogan lenkt und steuert die vorhandene Polarisierung sehr gut.

Klar Ja stimmten Türken in Deutschland, Belgien und Österreich. Sie bescherten Erdogan den erhofften Erfolg bei Auslandstürken.
Parlak:
Für mich ist es absolut unverständlich, dass Türken, die von der demokratischen Freiheit in Europa profitieren, sich für ein autoritäres System einsetzen.

Herr Aksoy, ziehen Sie jetzt in die Türkei?
Aksoy: Spätestens in sechs Jahren werde ich je sechs Monate pro Jahr in der Türkei und sechs in der Schweiz leben. Für mich sind beide Länder wichtig.
Parlak: Durch diese Abstimmung habe ich noch mehr gemerkt, dass die Schweiz meine Heimat ist. Hier habe ich noch nie Rassismus oder Faschismus empfunden. Ich bleibe hier, weil ich hier alle Freiheiten geniesse und immer eine faire Chance kriege. Die Schweiz ist das beste Land zum Leben!

Warum sagten die Schweiz-Türken klar Nein?
Parlak: Hier gibt es keine Ghettoisierung wie in Deutschland, Frankreich und Belgien. Die Türken in der Schweiz sind sehr gut integriert. Daher sind sie für Populisten weniger interessant.
Aksoy: Zudem leben in der Schweiz viele Kurden, die der kommunistischen PKK nahestehen. Sie kamen in den 80er- und 90er-Jahren als Asylbewerber in die Schweiz.

Die Türkei ist im Ausnahmezustand. Hätte die Abstimmung stattfinden dürfen?
Parlak: Der Staat kontrolliert sämtlich Medien, da hätte man gar nicht abstimmen dürfen.
Aksoy: Frankreich hat den Ausnahmezustand …
Parlak: Wie viele Journalisten sind dort inhaftiert? Keine!
Aksoy: Weil sie vermutlich ehrlicher sind als die türkischen.
Parlak: In der Türkei genügt mittlerweile ein kritischer Tweet, um inhaftiert zu werden.

Das deutsche Nachrichtenmagazin «Spiegel» schreibt, das Ja sei «ein Putsch von oben, der die Demokratie hinwegfegt». Wird die Türkei jetzt eine Diktatur?
Parlak:
Die Zukunft kennt niemand. Aber Erdogan hat gewonnen, die Türkei hat verloren.
Aksoy: Die Türkei hat trotz Präsidialsystem gewonnen.
Parlak: Wegen der tiefen Spaltung haben alle verloren.
Aksoy: Deshalb muss sich das Volk jetzt zusammenraufen.