Jetzt herrscht das Ich-Imperium

Warum ein lauter, obszöner New Yorker amerikanischer Präsident werden konnte.

Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Fotos) New York

wahlnachtVerloren liegt ein zerknüllter Haufen «Hillary for President»-Leibchen auf der 34. Strasse in New York. Adrett gekleidete Menschen strömen daran vorbei, die meisten von ihnen Frauen. Nur noch «five dollar, five dollar» will der Verkäufer für ein T-Shirt.

Ausverkauf in der Wahlnacht. Morgen will das keiner mehr. «Morgen ist Hillary Präsidentin», kreischt eine New Yorkerin. «Yeaaaaah!»

In der Hand hält sie eine der begehrten Karten für die Wahlfeier von Hillary Clinton (69), «für die Siegesfeier», sagt sie. «Das ist historisch.» Miterleben, wie die erste Frau die Wahl ins Weisse Haus annimmt.

Das war am Dienstag um 18 Uhr, New York in bester Laune. Tagsüber wählte die Stadt, danach wollte sie eine Siegerin feiern.

Doch New York ist nicht Amerika. Und Amerika verdirbt New York das Fest. Bereits um 20 Uhr liegt eine gespenstische Ruhe über der sonst so lauten City. Zwar wuseln viele Menschen durch die Strassenschluchten Manhattans. Aber sie staunen, sie schweigen.

wahlnacht2Ein Rüpel im Weissen Haus

Donald Trump (70) liegt vorn, und zwar genau dort, wo er gewinnen muss. Dabei gingen die Prognosen von einem frühzeitigen Clinton-Sieg aus.

Zuletzt wird es ein später Triumph von Trump. Eine Sensation! Ein Tycoon, ein Reality-TV-Star, ein Rüpel mit obszöner Zunge erhält Wohnrecht im Weissen Haus. Und die Macht einer Weltmacht.

Eine Überraschung? Ja, aber nicht nur.

Trump hatte einen klugen Plan. Er zielte auf den Rostgürtel ab. Auf die alten Industriestaaten im Norden Amerikas. Während viele Republikaner dachten, sie müssten die Latinos umgarnen, um das Weisse Haus zu holen, dachte Trump an Michigan, Ohio und an Pennsylvania.

Dort leben viele Menschen. Sie sind weiss. Bangen um ihren Job. Sind wütend. Trump versprach ihnen eine Mauer gegen Mexikaner. Er versprach ihnen Einfuhrzölle gegen Chinesen.

Simpel, nicht realistisch – aber verfänglich. Trump rechnete: Gewinnt er im Rostgürtel, gewinnt er das Weisse Haus.

Dass dieser Plan aufgehen könnte, fiel mir im Sommer in Ohio auf. Nie zuvor hätten sich so viele Neuwähler registriert wie dieses Jahr, sagte Stephanie Penrose (44). Seit 15 Jahren leitet sie das Wahlbüro in Warren, einer Stadt, die traditionell demokratisch wählt. «Viele registrieren sich, um im November Trump wählen zu können.»

Als Weisser Mann bin ich eine Minderheit

Vor einem Supermarkt in Warren traf ich Sam (41), weiss, kahl, Single. Er arbeitet als Wächter in einer General-Motors-Fabrik, ist Demokrat. Seit 2000 wählte er nie. «Jetzt wähle ich Trump», sagte er. «Als weisser Mann bin ich in der Minderheit, für mich interessiert sich keiner.»

Einer interessierte sich für Sam: Donald Trump.

Denn Sam gehört dieser vermeintlich vergessenen Minderheit an, die den Baulöwen ins Weisse Haus trug. «Trump gibt mir das Gefühl, es höre endlich wieder jemand meine Probleme.»

Für Sam und Millionen anderer Amerikaner ist Trump der Messias, der sie erlöst von der Globalisierung, vom Neoliberalismus, von allem. «Der hat genügend Wut im Bauch, er könnte uns tatsächlich retten.»

Am Parteikonvent in Cleveland und später an Wahlveranstaltungen zeichnete Trump ein düsteres Bild. Sein Amerika zerfällt, verrottet, ist bedroht von inneren und äusseren Feinden.

Er allein werde das Land vor dem Untergang bewahren. «Ich mache Amerika sicherer», versprach er. «Ich mache Amerika besser.»

Viel zu einfach klangen solche Botschaften in den klugen Zentren Amerikas, in New York, im Silicon Valley oder in Washington.

Dort blieb unbemerkt, was die Geschichte schon mehrmals zeigte: Wer glaubt, er sei ein Verlierer, ist empfänglich für einen, der sich als Sieger gibt.

Selbst wenn der Sieger so vulgär ist wie Trump. Oder gerade deswegen. Der 18-jährige Student Enzo Cespedes sagt mir letzte Woche in Miami, er störe sich nicht daran, wenn Trump abschätzig über Frauen rede. «Trump ist eben ein echter Mann, der seine Männlichkeit nicht versteckt.» Lachend neben ihm stand seine 18-jährige Freundin.

Hoffnung ist stärker als Abscheu

Mehrmals schien Trump geschlagen. Als er die Eltern eines gefallenen US-Soldaten beschimpfte, weil sie Muslime sind. Als bekannt wurde, dass er 20 Jahre lang kaum Steuern zahlte. Als Audio-Aufnahmen auftauchten, die ihn als wüsten Lüstling entblössten.

Die Hälfte der amerikanischen Wähler wischte das weg. Weil die Hoffnung auf die Erlösung stärker ist als die Abscheu über den Erlöser.

Wie kaum jemand versteht Trump die Medien. Stets weiss er, zu wem er spricht. Ständig brachte er sich ins Gespräch. Oft mit unverschämten Kraftausdrücken. Auf einem Kanal, den er völlig losgelöst von den herkömmlichen Medien kontrollierte. Fast 14 Millionen Menschen folgen ihm auf Twitter. Da beschimpfte er Politiker, Länder, Medien.

Wie eine Echokammer nehmen traditionelle Medien jeden Pieps von Trump auf, egal, wie dumm und dumpf er ist. Trump nervte – und das brachte Schlagzeilen, Klicks und Quoten.

Nicht so Hillary Clinton. Über sie wollte eigentlich niemand etwas schreiben oder sagen. Ihre Botschaft «ich habe viel Erfahrung» begeisterte nicht. Ihr fehlte, was es braucht, um ins Weisse Haus zu ziehen: Echte Leidenschaft für ein klares Thema.

Wohl deshalb gingen weit weniger Amerikaner weniger wählen als vor vier Jahren. Womit sich Trumps Triumph ebenfalls erklären lässt.

Am Mittwoch früh, um drei Uhr in der Nacht, hält Donald Trump im Hilton Hotel seine Siegesrede. «Wir haben nicht nur einen Wahlkampf geführt, sondern eine unglaubliche, grossartige Bewegung in Gang gesetzt», ruft er. Er bedankt sich bei Konkurrentin Hillary Clinton. Und trifft erneut den Ton und das Publikum, zu dem er redet. Er probt den Staatsmann, verspricht, «Präsident aller Amerikaner» zu sein.

Draussen ertönen «USA, USA, USA!»-Rufe. Einer verkauft «Make America Great Again»-Mützen. Sie kosten 20 Dollar, am Abend zuvor bot er sie für fünf Dollar feil. Die Nachfrage bestimmt den Preis.

Am Mittwochmorgen, nach einem unerwarteten Ausgang der Wahlnacht, spricht eine masslos enttäuschte, aber souveräne Hillary Clinton in New York. Draussen regnet es. Die Strassen sind leer.