Von Peter Hossli (Text) und Stefan Falke (Fotos)
Sie endet zuversichtlich. «Liebe triumphiert über Hass», sagt Hillary Clinton (69), reckt die Arme zum wolkenlosen Himmel. Und tut, wovor sich Donald Trump scheut. Was er nie tut.
Sie steigt vom Podium und nimmt ein Bad in der Menge. Schüttelt Hände. Posiert für Fotos. Lacht. Und plaudert.
Clinton geht auf Tuchfühlung mit den Menschen. «Zurück!», sagt sie den breitschultrigen Agenten hinter ihr. Nicht nur für TV-Kameras ist sie nach Winterville gereist. Sondern auch für ihre Anhänger.
Die erste Frau im Oval Office
Und für Stimmen. Gewinnt die Demokratin am Dienstag hier in North Carolina, zieht sie als erste Frau ins Oval Office des Weissen Hauses ein. Verliert sie, wird es knapp.
Kurz vor 14 Uhr am Donnerstag, auf dem Campus des Pitt College: In einer Stunde spricht Clinton. Die Bühne ist bereit, die Kabel sind verlegt, die Scheinwerfer leuchten, Sternenbanner hängen. «Let’s Go Crazy» von Prince peitscht aus Boxen.
Und Lorelei Schaffhausen (65) fächert sich Wind ins Gesicht. Es ist heiss. Aus New Bern ist sie angereist. Ihre Vorfahren sind aus der Schweiz eingewandert. Sie wähle Clinton, «weil Hillary als Mutter versteht, was es heisst, für andere da zu sein».
Eine Wahl um Werte
Um Werte gehe es bei dieser Wahl, sagt die Sozialarbeiterin. «Entweder wir schicken einen Superreichen ins Weisse Haus, der nur für sich arbeitet. Oder eine Frau, die ein Leben lang für andere da war.» Seit Wochen mobilisiert Schaffhausen Wähler. «Ich lasse es nicht zu, dass Trump gewinnt.»
Hinter ihr hat sich eine Schlange gebildet. Tausende wollen Clinton sehen. Vor allem Frauen – ein gutes Zeichen für die Demokratin. Gehen überdurchschnittlich viele Frauen an die Urne, gewinnt Clinton. Bleiben sie zu Hause, siegt Trump.
Ihre Mitarbeiter reden mit den Menschen, die warten. «Haben Sie schon gewählt?» – «Spenden Sie?» – «Haben Sie Zeit, uns zu helfen?»
Clintons Team wirkt weit besser organisiert als Trumps Truppe. Dessen Wahlkampf scheint allein aus ihm zu bestehen.
«Sie ist eine von uns»
Die Arena füllt sich. Agenten des Secret Service sind in Position – bald ist sie da. Fans wedeln mit Schildern: «She’s with us», sie ist eine von uns. «It’s her time», jetzt ist sie dran. Oder nur: «USA».
Zuvorderst in der Reihe steht Mickey Baker (73). Um sieben Uhr ging sie in Ocracoke Island auf die Fähre, um Clinton zu sehen. «Links und lesbisch» sei sie. «Auch noch Vegetarierin», witzelt sie.
Nicht weil Clinton eine Frau ist, wählt sie die Demokratin. «Sondern weil sie das tief gespaltene Land wieder eint.» Sie streicht sich durchs weissgraue Haar. «Politik ist oft dreckig. Weil Hillary das versteht, bringt sie etwas zustande.»
Sie will Geschichte schreiben
Und die E-Mails, über die jetzt alle reden? «Mir egal», so Baker.«Geheimnisse hat jeder, Hillary versteckt nichts, was uns etwas angeht.» Es sei absurd, dass sie wegen eines Sexting-süchtigen Kerls Probleme habe. «Ein Leben lang war Hillary mit dem gleichen Mann zusammen, hat aber oft Ärger mit Lüstlingen», so Baker. «Als wär ihr Leben ein Drama von Shakespeare.»
Endlich, Hillary steigt auf die Bühne, in rosarotem Jackett, Pumps und schwarzer Hose, angekündigt als «nächste Präsidentin Amerikas». Sie strahlt, blickt in den Teleprompter – und redet über Sport.
Am Vorabend gewannen die Chicago Cubs die Baseball-World-Series, zum ersten Mal seit 108 Jahren. «Am 8. November schreiben auch wir Geschichte!» Sie meint: Ich schreibe Geschichte. «Seid ihr bereit, die erste Frau ins Weisse Haus zu schicken?» – «Ja», jubeln alle. «Seid ihr bereit, hart dafür zu arbeiten?» – «Jaaaaa!»
«Ich kann nicht alles»
Clinton redet optimistisch. Sie werde Strassen sanieren und Brücken. Syrien befrieden. Jobs schaffen. Schwarze aus Gefängnissen holen, ihnen Stellen vermitteln. Amerika sei kein «Land des Hasses». «Wir sind besser», sagt sie – und spricht über Trump, ohne seinen Namen zu nennen. «Amerika hat ein grosses Herz und keinen kleinen Geist.»
Sie spricht solide, aber nicht grossartig. Dass sie keine begnadete Rednerin ist, weiss Clinton. «Ich höre lieber zu, da lerne ich mehr.» Unüblich für einen Politiker zeigt sie Demut: «Ich kann nicht alles.»
Mit einer einfachen Wahrheit rüttelt sie auf. «Amerika hat am 20. Januar einen neuen Präsidenten», sagt Clinton. «Entweder ich oder er. Stellt euch einfach mal Trump im Oval Office vor.» Buhrufe erschallen. «Es darf niemand Präsident werden, der unsere Töchter, Schwestern und Mütter nach dem Aussehen bewertet.»
Trump und die Frauen
Was Trump über Frauen sage, «ist extrem verletzend», sagt Tiffany West (23). Von New Hampshire ist die Psychologiestudentin nach North Carolina gezogen. Deshalb sei es «superwichtig für junge Frauen und Mädchen, dass Hillary gewinnt», so West. «Damit sie sehen, was sie erreichen können.»
Renee Purvis (53) trägt ein rotes T-Shirt, «Nasty Woman» steht darauf, scheussliche Frau. So beschimpfte Trump Clinton im letzten TV-Duell. Purvis zeigt auf sich selbst: «Diese scheussliche Frau sorgt nun dafür, dass Clinton gewinnt.»
Hillary will hier gewinnen – unbedingt
Bereits gewählt hat Kindergärtnerin Tyson (42). «Eine Stimme für Clinton und gegen Trump.» Bis zum 8. November fährt sie Gehbehinderte zu den Urnen. Was sagt die schwarze Frau zu den Berichten, in North Carolina würden weniger Schwarze zur Wahl gehen als 2012? Sie winkt ab. «Alle Schwarzen, die ich kenne, wählen.»
Clinton drückt eine letzte Hand, posiert ein letztes Mal, steigt in den Geländewagen – und fährt zum nächsten Auftritt, ebenfalls in North Carolina. Sie will hier gewinnen. Unbedingt.