Von Peter Hossli
Ende Mai rannten Marha (12) und Linda (10) in Kilchberg ZH noch um die Wette. Shorts und T-Shirts trugen sie beim Schnällschte Chilchberger. Die langen Haare der tschetschenischen Mädchen wirbelten im Wind.
Nun leben sie in der russischen Republik Tschetschenien, müssen dort Kopftuch tragen. Sind sie draussen, sind ihre Haare verhüllt. Zumal bewaffnete Schergen des Regimes überprüfen, wie züchtig sich Frauen und Mädchen kleiden.
Nach Tschetschenien schafften Behörden des Bundes und des Kantons Zürichs die Mädchen, ihre zwei Brüder und ihre Eltern am 9. Juni 2016 aus. Obwohl die Familie M.* viereinhalb Jahre voll integriert in der Schweiz lebte. Grund: Die Asylgesuche des Vaters wurden zweimal abgelehnt.
Unter «massivem Heimweh» litten die Kinder in Tschetschenien, sagt Francesca Bürgin (49) vom Kilchberger Verein «Hier zu Hause», der sich für die Familie M. einsetzt.
Über Whatsapp telefoniert sie mit Marha. «Sie weint, erzählt, sie könnten kaum rausgehen.» Es sei bis zu 40 Grad heiss, aber sie dürften nicht baden, müssten in der Bruthitze lange Röcke tragen. Hosen und Shorts seien untersagt. «Sie sehnen sich nach dem Zürichsee», sagt Bürgin. Die neue Kultur sei ihnen fremd. «Sie sprechen kein Russisch, nur wenig Tschetschenisch.» Bürgin ist besorgt. «Sehe ich Linda und Marha auf Fotos, so sehe ich Mädchen, deren Augen nicht mehr glänzen.»
Die Kinder hätten Angst vor dem Regime, sagt ihr Vater B. M.* (39). «Jedes Auto, das in der Nähe anhält, jede Person, die
um die Ecke biegt, lässt uns zusammenzucken.» Seine Kinder sollten nicht «in Unsicherheit und Ungewissheit aufwachsen».
Ihr Gesuch richtet sich an Zürichs Sicherheitsdirektor Mario Fehr (57). Der SP-Mann und Burkaverbots-Befürworter könne eine Härtefall-Bewilligung erteilen, sagt Martin Jäggi, Anwalt der Familie M.
Er stützt sich auf die Kinderrechtskonvention, die seit 1997 in der Schweiz gilt. «Das Kindswohl muss stets vorrangig berücksichtig werden.» Die Kinder aus Tschetschenien seien vor der Ausschaffung nie befragt worden. Zudem dürfe ihnen das Verhalten der Eltern nie angelastet werden. Weil das Asylgesuch des Vaters abgelehnt worden sei, könne man sie nicht aus dem vertrauten Umfeld reissen. «Wie Gepäckstücke sind sie ausgeflogen worden.» Das sei eine «krasse Verletzung des Kindswohls», sagt Jäggi.
Der Ball liege nun bei Fehr. Er könne das Zürcher Migrationsamt anweisen, das Gesuch zu bewilligen. Den Entscheid prüfe das Staatssekretariat für Migration. «Die Zukunft der Kinder und ihrer Familie liegt in den Händen
von Sicherheitsdirektor Fehr», sagt Ronie Bürgin (49) von «Hier zu Hause». «Er hat nun allen nötigen Ermessensspielraum, um den humanitär einzig richtigen Entscheid zu fällen und das Gesuch zu bewilligen.»
Fehr selbst nimmt nicht Stellung. «Eine allfällige Gutheissung durch unser Amt ist in jedem Fall abhängig von der Zustimmung des Bundes», sagt Michael Schneeberger, stellvertretender Chef des Zürcher Migrationsamtes. Aber: «Wir prüfen nun das Gesuch.»
Die Hoffnung für Marha und Linda? Sie stirbt zuletzt.
* Namen der Redaktion bekannt