Amerikas Stachel

Rassismus und Polizeigewalt: Präsident Barack Obama hinterlässt eine zutiefst gespaltene und bis an die bewaffnete Zähne Nation. Ein Kommentar.

Von Peter Hossli

dallas-shooting-mourningZwölf Jahre ist es her, seit ein junger Senator mit fremdklingendem Namen erstmals faszinierte. Es gebe nur ein Amerika, nicht zwei, so Barack Obama (54) im Juli 2004 am Parteitag der Demokraten. Klar war: eines Tages würde er US-Präsident sein – der erste Schwarze im Weissen Haus.

Noch sechs Monate wohnt Obama nun dort. Und das Land, das er regiert, ist gespaltener denn je, zerrissen durch offenen Rassismus.

«Bürgerkrieg», titeln US-Zeitungen. Letzte Woche töteten weisse Polizisten in Louisiana und Minnesota je einen schwarzen Passanten. Ein schwarzer Soldat erschoss in der Nacht auf Freitag in Dallas fünf weisse Cops, verletzte sieben.
Auf Facebook sympathisierte der Killer für eine neue Black-Panther-Bewegung. Sie will Weisse töten. Der Verdacht liegt nahe: Das Massaker in Dallas war ein Racheakt. Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Aber es ist mehr als Rache. Das hässliche Amerika entlädt sich. Der Rassismus. Die Gewalt der Polizei. Pausenloser Lärm in sozialen Medien schürt Hass. Auf erbärmlich tiefem Niveau zanken sich zwei Kandidaten um Obamas Nachfolge.

Und das alles in einer bis an die Zähne bewaffneten Nation. Heute gibt es mehr Waffen als Einwohner in Amerika. 2015 kam es zu 372 Amokläufen, 62 davon an Schulen. 475 Menschen starben dabei. Letztes Jahr töteten Waffen 13286-mal.

Aufhorchen lässt: Der Amtsantritt von Obama trieb weisse Rassisten in Waffenläden. Folglich rüsteten sich viele Schwarze auf.
Für Obama – den ersten Schwarzen im Weissen Haus – ist das tragisch. Er hat es versäumt, über das einzige echte amerikanische Trauma offen zu reden: die Sklaverei und deren Folgen. Alle kamen freiwillig im Meltingpot Amerika an. Ausser die Afrikaner. Verschleppt, versklavt, vergewaltigt erreichten sie die Neue Welt. Schufen dort für andere Reichtum.

Wie ein vereiterter Stachel steckt dieses Vermächtnis tief in Amerika drin. Nie versuchte Obama, den Stachel zu ziehen. Er wollte nicht der Präsident der Schwarzen sein, sondern aller Amerikaner. Wie so viele konnte er nie ganz nachvollziehen, wie tief der Stachel sitzt. Nie lebte er in einem schwarzen Ghetto. Wo einer stirbt, allein weil er schwarz ist.

Seit Jahren beschäftigen mich zwei schwierige Fragen: Ist Obama ein schwarzer Amerikaner? Was prägt einen mehr, die Hautfarbe oder die sozialen Umstände? Obama wuchs mit seiner weissen Mutter in Hawaii auf, sein Vater war Kenianer. Die Vorfahren mütterlicherseits besassen Sklaven in Kentucky.

Es war eine falsche Erwartung, dass Obama die Menschen aller Hautfarben versöhnen würde. Das braucht mehr Zeit – und offenbar mehr Bewusstsein.