Abwarten und Tee trinken

Philosoph Alain de Botton geht nach dem Brexit von einer Lockerung der Personenfreizügigkeit in Europa aus.

Von Peter Hossli (Text) und Mark Chilvers (Foto)

de_botton1Der Schweizer Autor und Philosoph Alain de Botton (46) lebt in London. Komme es zum Brexit, müsse er England wohl verlassen, sagte er vor der Abstimmung zu SonntagsBlick. Wir haben ihn am Telefon in London erreicht. Und sprachen mit ihm über …

… das Kofferpacken
Alain de Botton: Warum sollte ich jetzt packen? Jetzt warten wir mal ab. Noch ist die Sache nicht entschieden. Es gibt etliche Möglichkeiten, damit die Briten in der EU bleiben.

… über Angela Merkel
Vieles hängt davon ab, ob der nächste Premierminister tatsächlich einen Antrag stellt, vollständig aus der EU auszutreten. Womöglich passiert das gar nicht. Wichtig ist Angela Merkel. Sie kann helfen, Kompromisse bei der Personenfreizügigkeit zu finden. Beide Seiten – die britische wie die europäische – müssen sich schnell klar werden, was sie voneinander wollen.

… den Verbleib der Briten in der EU – trotz Brexit
Die Chance, dass Grossbritannien vollständig austreten wird, ist gering. Will die EU als Ganzes überleben, muss sie flexibler werden bei der Personenfreizügigkeit – und Restriktionen zulassen. Die Personenfreizügigkeit ist zum Fetisch der EU geworden. Sie ist es nicht wert, dafür die gesamte Organisation zu opfern. Die Schweizer waren wieder einmal Vorreiter. Nun muss die EU nachziehen. Es ist einfacher, die Personenfreizügigkeit aufzubrechen, als die EU zu zerschlagen.

… die Möglichkeit eines zweiten Referendums
Den Entscheid umzukippen, geht nicht, aber es ist möglich, weiter zu verhandeln. Es ging im Referendum um ein einfaches Ja oder ein Nein. Die Briten stimmten nicht darüber ab, was bei einem Nein passieren würde. Bei einem zweiten Referendum könnte es um die Neugestaltung der Beziehung zur EU gehen.

… die Fehler der Brexit-Gegner
«Remain»-Befürwortern gelang es nicht, die EU positiv anzupreisen. Sie sagten einzig: «Wenn ihr für den Austritt stimmt, werdet ihr verlieren.» Viele Briten haben nichts mehr zu verlieren! Es reicht nicht zu sagen: «ihr werdet leiden!» Sie leiden bereits. Die Abstimmung machte deutlich, wie tief gespalten Grossbritannien ist. Wer wirtschaftlich an der Gesellschaft beteiligt ist, stimmte für den Verbleib in der EU, wer nicht, wollte raus. Niemand im «Remain»-Lager traute sich, über Immigration zu reden. Sie hatten Angst, als Rassisten bezichtigt zu werden. Dabei ist das Gegenteil wahr: wir müssen über Immigration und deren Folgen sprechen.

… den nächsten britischen Premierminister
Boris Johnson ist nicht intelligent genug, die Verhandlungen zu führen. Theresa May wäre besser. Derweilen bricht die Labour-Party gerade auseinander. Am wahrscheinlichsten scheinen mir Neuwahlen. Möglich wäre eine gross Koalition aus EU-Befürwortern – und eine neue liberale Bewegung.

… die Demokratie in der Schweiz und jene in Grossbritannien
Dass das Volk das letzte Wort haben soll, stimmt für die Schweizer. Wir sind mit der direkten Demokratie aufgewachsen. Die Schweiz hat alles, was es dazu braucht: ein gutes Bildungswesen, keine krassen Klassenunterschiede. Der obligatorische Militärdienst hält das Land zusammen. All das haben die Briten nicht. In Grossbritannien ein Referendum abzuhalten, ist, wie wenn Marsmenschen auf der Erde landen würden.

… die Abspaltung Schottlands vom Königreich und eine irische Wiedervereinigung
Brüssel wird Schottland nie alleine aufnehmen. Meine Prognose: Die Schotten bleiben bei Grossbritannien. Eine irische Wiedervereinigung gibt es nicht.