Von Peter Hossli (Text) und Mark Chilvers (Fotos)
Ungewöhnlich still ist es auf der Plattform der Londoner Untergrundbahn. Menschen starren auf Handy. Oder ins Leere. Niemand redet. Bis der Lautsprecher krächzt. «Wir haben ein Problem mit einer Weiche», so die bleierne Stimme. Verspätet seien die Züge auf der Jubilee Line. «Es fängt an», sagt ein Passagier, «alles bricht ein.» Er hält eine Zeitung in der Hand, «We’re Out», steht auf dem Titel. Wir sind draussen. «Wir Briten sind Arsch», murmelt er.
London am Tag nach der Brexit-Abstimmung. Die Sonne scheint, und doch sind die meisten bedrückt.
Eine knappe Mehrheit der Briten hat sich für einen Austritt aus der Europäischen Union (EU) entschieden, die meisten Londoner wollten bleiben. Von «Schock» sprechen sie in Pubs, auf der Strasse, in Cafés.
Frauen tragen handbemalte Schilder zur Downing Street. Dort wohnt Premierminister David Cameron (49), der vor kurzem zurücktrat. «Ich bin Europäerin, nicht Britin», so ein Schild. Ein Mann wedelt eine Europa-Flagge.
Auf der anderen Strassenseite, im Red Lion Pub, trinken Beamte Bier. «Wir in London haben keine Ahnung wie der Rest des Landes tickt», sagt einer. Tief gespalten sei das Land. «Nicht entlang von Rasse oder Religion – sondern entlang Klassen.» Für den Brexit hätten jene gestimmt, die keinen Job haben, im Spital lange warten müssen, deren Kinder mit 30 anderen ein Klassenzimmer teilten.
Strahlend geht Craig Mackinlay (49) am Pub vorbei. Er vertritt die Konservativen im Parlament, trägt am Jackett eine «Vote Leave»-Plakette. «Ich bin einfach nur glücklich», sagt er. «Endlich sind wir wieder ein normales Land, das mit allen direkt verhandeln kann.» Mackinlay: «Ich will wie die Schweiz sein, Ihr habt mehr Handelsverträge mit der Welt als Grossbritannien.»
Anders das Bild vor der alten Börse Londons. Mit hängenden Köpfen gehen Banker durch die Strasse. «Ich habe heute eine Stange Geld verloren», sagt John (43), den Nachnamen will er nicht in der Zeitung lesen. Sein Vermögen sei in Aktien angelegt. Weltweit brachen die Börsen ein. Bis wann wird er die Verluste wettmachen? «Es wird lange dauern, eine Rezession scheint sicher.»
Er sorge sich um seine Kinder – und wie viele andere um Grossbritannien. «Schottland und Nordirland dürften sich abspalten wollen», sagt John. Beide Länder haben sich klar für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. «Die Union ist tot», sagt sogar Sian Boultby (21). Sie küsst ihren Freund auf der Bond Street, mitten im schicken Einkaufszentrum.
Hier jobbt sie ein paar Monate in einem portugiesischen Kleiderladen, danach möchte sie Ingenieurin werden, in Deutschland studieren. «Als wir das Resultat hörten, haben wir nur noch geflucht», sagt Boultby. «Soll ich wirklich noch Kinder in einem rassischsten Land zu Welt bringen?»
Was sie besonders sorgt: «Wo sollen denn die 5.5 Millionen Briten leben, die heute in der EU leben und nun zurück müssen?» Sie und ihr Freund hätten einen Fluchtplan: «Wir gehen nach Schottland – oder nach Kanada!»
Von einem «historischen Schock» spricht Anwältin Rochelle Hunt (26). Sie verkauft Immobilien an ausländische Kunden. «Vermutlich sinken die Häuserpreise, und unsere Umsätze fallen.» Für die Buchhalterin Neda Ranie (41) ist das Resultat ein «Albtraum». Sie wickelt für europäische Handelsfirmen Steuern ab. «Jetzt braucht es für jedes Land separate Abkommen.»
Wenig Zeit hat Chris Ellis (39). Der Vermögensverwalter ist auf dem Weg zu einem Kunden. Scharf kritisiert er britische Politiker. «Das hat uns Cameron eingebrockt, er dachte nur an sich selbst als er das Referendum ansetzte.» Folgerichtig sei sein Rücktritt. «Es ist zu hoffen, dass das Land jetzt nicht nach rechts rutscht.» Als «Witz» bezeichnet er den mutmasslichen Nachfolger, Boris Johnson (52).
Wie viele in London schimpft Ellis über die linke Labour-Party. «Sie hat total versagt, und sich viel zu wenig engagiert.»
Grossbritannien folge jetzt «dem Schweizer Modell», so Ellis. «Wir wollen alles aus Europa – ausser Migranten.» Rassisten seien die Briten aber nicht, betont er. Viele hätten aus einer Not abgestimmt. Der Entscheid sei demokratisch gefallen – und zu respektieren. «Nicht alle der 17 Millionen Brexit-Befürworter sind Idioten!»