Erlebt London den «Independence Day»?

Viele britische Zeitungen weibeln intensiv für den Brexit. Boris Johnson erfand als Journalist einst diese Anti-EU-Haltung.

Von Peter Hossli

titelDonnerstag, Mittag. Um Stunden verspätet landen Jets am Flughafen London City. Schwere Gewitter haben sich über der Millionenmetropole entladen. Ken Watkinson kauft am Flughafenkiosk «The Daily Telegraph», neben ihm liegt die «Sun», das Revolverblatt mit einer Auflage von 1,85 Millionen Exemplaren. Watkinson hat heute früh ein «Exit» in die Urne geworfen, sagt er. «Weil aus Brüssel so viele Vorschriften kommen, die zum Nachteil der Briten sind», sagt er.

Auf dem Titel der «Sun» geht die Sonne über Grossbritannien auf. Dazu die Schlagzeile: «Independence Day», gesetzt in der Titelschrift des gleichnamigen Hollywoodfilms, bei dem sich Amerika und die Welt in epischen Schlachten von Ausserirdischen befreien.

Die Ausserirdischen in der Logik der «Sun»? Die anderen Mitgliedsländer der EU. «Heute können Sie das Vereinigte Königreich von der Umklammerung der EU befreien.» Zwar ist die «The Sun» die lauteste britische Zeitung. Doch längst nicht die einzige, die den 46,5 Millionen Briten den Exit aus der EU – den Brexit – nahelegt. Die «Daily Mail» liefert die «Vier grossen Lügen der EU». Der «Daily Express» titelt: «Vote Leave Today». Denn: «Dein Land braucht Dich.» Letzte Umfragen gehen von einer knappen Entscheidung aus, trotz apokalyptischen Warnungen von Politikern und Ökonomen.

Warum liebäugeln so viele Briten mit dem Brexit? Wegen eben diesen britischen Zeitungen. Das schrieb diese Woche der einstige «Times»-Brüssel-Korrespondent Martin Fletcher in einem viel beachteten Leitartikel in der «New York Times». Jahrzehntelang hätten die Zeitungen grösstenteils negativ über die EU berichtet – und so den Boden gelegt für die ablehnende britische Haltung gegenüber der EU. Nur zwei bedeutende Blätter – «The Guardian» und die «Financial Times» – sprachen sich für einen Verbleib in der EU aus. Mit erhobenen britischen Flaggen hingegen schrien die Boulevard-Titel den Brexit herbei.

Ausgerechnet das Gesicht des Leave-Lagers erfand die Anti-EU-Haltung. Boris Johnson (52) berichtete in den Neunzigerjahren für «The Telegraph» aus Brüssel. Genüsslich machte er sich lustig über von Brüsseler Beamten standardisierte Kondomgrössen. Nonstop griff er die EU an. Die Texte des späteren Bürgermeisters von London gefielen Lesern wie Redaktoren. Als Fletcher nach Brüssel kam, «wollten die Redaktoren nur noch Geschichten über gesichtslose europäische Bürokraten, welche die Form von Gurken bestimmten». Wie das wirkte – das ist morgen früh klar.