Von Peter Hossli
Gestern früh in Moskau. Familie M.* steigt in einen Bus. Reiseziel: ein Ort in der Nähe von Grosny, der Hauptstadt der russischen Republik Tschetschenien. 35 Stunden dauert die 1850 Kilometer lange Fahrt. Am Tag zuvor wurden die Eltern und ihre vier Kinder mit einem gecharterten Flugzeug aus der Schweiz ausgeschafft.
Die Russen hielten den Vater beim Grenzübertritt fest. Erschöpft kam die Familie im Hotel in Moskau an. Das älteste Mädchen, Marha (12), hatte nur einen Wunsch: Melanie (11) zu kontaktieren, ihre beste Freundin. Sie musste sie in Kilchberg ZH zurücklassen.
Fast die ganze Nacht chatten die beiden Mädchen per Whatsapp. «Es ist kalt hier, ich möchte nach Hause», schreibt Marha. «Ich möchte dich sehen.» Ihr gefühltes Daheim? Kilchberg, die Gemeinde am Zürichsee, in der sie viereinhalb Jahre gelebt hatte. Wohin Marha jetzt nicht mehr zurückkann.
Und wo Melanie schlaflose Nächte verbringt. Sie isst kaum, hat Weinkrämpfe. «Es geht Melanie schlecht», sagt ihre Mutter, Francesca Bürgin (48). «Sie hat eben ihre beste Freundin verloren.»
Zuletzt wohnte die Familie M. im Pfarrhaus der reformierten Kirche, erhielt von Pfarrerin Sibylle Forrer (36) Kirchenasyl. Am Montagabend informierte die Kantonspolizei «unmissverständlich», dass ein Zugriff unmittelbar bevorstehe, so Forrer. «Wir wollten eine Zwangsausschaffung um jeden Preis verhindern.»
Die Eltern hätten zwar in der Schweiz bleiben wollen. «Aber eine gewaltsame Ausschaffung wie im September sollten die Kinder nie mehr erleben.» Zwei fehlgeschlagene Versuche hatten Kinder wie Eltern traumatisiert.
Am Dienstag und Mittwoch sei alles für die lange Reise organisiert worden, sagt Forrer. Der Abschied von der Schule, das Hotel in Moskau, die Busfahrt nach Tschetschenien. Es mussten Papiere auf Russisch übersetzt und beglaubigt werden. Am Mittwochabend dann das Fest. «Es war ein echter Abschied», sagt Forrer. «Es wäre falsch gewesen, der Familie erneut Hoffnung zu machen.» Denn: «Solange es eine Einreisesperre gibt, können sie nicht in die Schweiz zurück, sie müssen ein neues Leben in Tschetschenien aufbauen.»
Aus dem Sinn aber sei die Familie nicht. «Wir sind in Worten, Gedanken und Gebeten mit ihnen sehr verbunden.»
Es sei «stossend, dass die muslimische Familie ausgerechnet während des Ramadans ausgeschafft wurde». Tschetschenien sei «kein sicheres Land». Das Aussendepartement rät von Reisen nach Tschetschenien ausdrücklich ab. Forrer: «Die Schweizer Behörden hatten einen Ermessensspielraum. Es ist empörend, dass sie ihn zuungunsten einer voll integrierten Familie ausgelegt haben.»
* Name der Redaktion bekannt
Regierungsrat Mario Fehr: Viel geredet, nichts getan
Der Zürcher SP-Regierungsrat Mario Fehr (57) hielt am Freitag vor Pfingsten in der Kirche von Kilchberg eine Rede. Darin habe er «explizit Dialogbereitschaft signalisiert», sagt Ronie Bürgin (49) vom Komitee «Hier zu Hause», das sich für den Verbleib der Familie M. in der Schweiz einsetzte. Beim nachfolgenden Apéro sagte Fehr, es sei jetzt aber nicht der richtige Zeitpunkt für einen Dialog. «Auf eine spätere Gesprächsanfrage mit dem Komitee ist Herr Fehr nicht eingetreten», so Bürgin. «Enttäuschend ist, dass sich der für die Rückführung zuständige Regierungsrat in keiner Weise bemühte.» Von der Rede gebe es «kein verlässliches Manuskript», Fehr sei aus aktuellem Anlass stark von der Vorlage abgewichen, wie ein Sprecher der Sicherheitsdirektion sagt. Ein Interview lehnt Fehr ab. Zuständig sei das Staatssekretariat für Migration.