Von Peter Hossli
Heute Morgen um 7 Uhr 30 in Kilchberg ZH. Etliche in zivil gekleidete Kantonspolizisten fahren bei der reformierten Kirche vor. Sie sperren alle Zugänge ab. Nichts darf schief gehen. Niemand darf diese Aktion stören.
Die sechsköpfige Familie M.* aus der russischen Republik Tschetschenien stiegt in einen Kleinbus. Unter Tränen verabschieden sich Kinder und Eltern aus Kilchberg, berichten Augenzeugen. Ein Mädchen versucht, die bereits geladenen Koffer aus dem Bus zu holen.
Vergeblich.
Der Bus fährt zum Flughafen Zürich Kloten. Ein gechartertes Flugzeug steht bereit. Es hebt zwischen 10 Uhr 30 und 11 Uhr ab – Richtung Moskau. Um 16 Uhr passiert die Familie M. den russischen Zoll. Ein Mitarbeiter des Staatssekretariats für Migration beobachtet die Grenzüberschreitung. Eine Person der Internationalen Organisation für Migration begleitet sie zu einem in Moskau gebuchten Hotel.
Vor viereinhalb Jahren kam die Familie nach monatelanger Flucht in die Schweiz. Der Vater soll in Tschetschenien gefoltert worden sein. Doch sein Asylantrag wurde in letzter Instanz abgelehnt.
Voll integriert leben die Ms in Kilchberg. Der jüngste, der vierjährige Mansur kommt in der Schweiz zur Welt, die drei älteren Kinder gehen in die Volksschule, sprechen perfekt Züritüütsch, schreiben gute Noten.
Nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen, die Familie gewaltsam auszuschaffen, ziehen die Eltern mit Anvar (15), Marha (12), Linda (11) und Mansur ins Pfarrhaus der protestantischen Kirche von Kilchberg, sie erhalten Kirchenasyl.
Nun entschied sich die Familie, die Schweiz freiwillig zu verlassen. «Wir können dieses Leben in ständiger Angst und ständigem Druck unseren Kindern nicht mehr länger zumuten», sagt der Vater.
Bis zuletzt hätten sie gehofft, hier zu bleiben. «Die Behörden machten unmissverständlich klar, dass es keine Gnade gibt», sagt Ronie Bürgin (48), ein Mitinitiant von «Hier zuhause!», einer Bürgerinitiative von rund 2500 Personen, die sich für den Verbleib der Familie eingesetzt hat.
Der Druck sei erheblich gewesen. So ist gegen einen Vertreter der Kirche Strafanzeige erhoben worden. Bis zuletzt lehnte es die Familie ab, irgendwo in der Schweiz unterzutauchen. «Die Familie hatte keine andere Wahl mehr als auszureisen», sagt Bürgin.
Obwohl sie sich fürchtet, jetzt in ein Land zu reisen, das von Menschenrechtsorganisationen als prekär beschrieben wird, das von Präsident Ramsan Kadyrow (39) autokratisch geführt ist. «Wir haben Angst vor dem, was uns in Russland erwartet, aber wir haben keine andere Wahl», sagt Herr M. «Die Kinder brauchen grösstmögliche Stabilität. Wir danken der Bevölkerung in Kilchberg und der Kirche von ganzem Herzen für die grosse Unterstützung.»
Er betont: «Auch Freunde zu verlassen tut weh.»
Zuständig für den Vollzug ist die Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich. «Die Familie konnte heute nach Moskau rückgeführt werden. Die Rückführung erfolgte einvernehmlich; in Begleitung eines Teams der Kantonspolizei, eines Arztes und einer Begleitperson der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter», sagt Pressesprecher Urs Grob. Der zuständige Regierungsrat Mario Fehr (SP, 57) wollte sich nicht äussern.
Am Mittwochabend verabschiedeten sich die Kinder in Kilchberg voneinander. «Sie spielten, sie hatten Spass miteinander, sie weinten und mussten getröstet werden», sagt Bürgin. Zwar sei die Ausschaffung heute Morgen ordentlich abgelaufen. Aber: «Die tschetschenischen Kinder werden nun von offizieller Seite ihres Lebensmittelpunktes beraubt und in ein Land abgeschoben, dessen Sprache und Kultur sie nicht kennen.»
Etliche Kilchberger Kinder verfassten Briefe an ihre tschetschenischen Gespönli: «Ich werde die Schule nicht ohne dich überleben», schreibt Sophie an Linda. «Und gerade weil ich weiss, dass Tschetschenien nicht das sicherste Land ist, wünsche ich dir viel Glück und ein langes Leben», so «dein Freund Jonas». Marthysa an Marha: «Immer wieder bringst du mich zum Lachen mit deinem Witz. Jetzt ist der Platz neben mir leer.»
Amy schreibt: «Seit ich dich kenne, ist die Welt so viel schöner, Linda, du bist das stärkste Mädchen, das ich kenne.» Beste Freundinnen sind Marha und Melanie (11). «Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen», so Melanie. «Du bist meine beste Freundin, und wirst es auch immer sein. Du bist hübsch, talentiert und einfach toll. Die ersten Wochen werde ich nicht schlafen können… ich werde von dir träumen.»
Es ist vorgesehen, dass die Familie M. bis am Montag in Moskau bleiben wird. Dann reist sie weiter in den Kaukasus und sucht in der Nähe der Stadt Grosny eine Wohnung.
* Name der Redaktion bekannt