Interview: Peter Hossli Fotos: Mark Chilvers
Alain de Botton empfängt in einer Parterrewohnung im Londoner Stadtteil Belsize Park. «Das ist mein Büro», sagt er. Er wohnt im Haus nebenan. Sein neues Buch handelt von der Liebe.
Herr de Botton, wann ist eine Ehe gut?
Alain de Botton: Wenn die Partner voneinander lernen und so zu besseren Menschen werden. Eine Ehe ohne Probleme gibt es nicht.
Was raten Sie einem Liebespaar?
Man sollte früh fragen: «Wie bist du drauf, wenn du verrückt bist?»
Um sich auf alles vorzubereiten?
Jeder ist komisch bis seltsam. Beim Zusammenleben setzt man sich dem Wahnsinn des anderen zu 100 Prozent aus. Man muss für eine Ehe nicht perfekt sein, aber sagen können, wozu man in der Lage ist. Wer behauptet: «Ich habe keine Probleme, mit mir lebt es sich toll» – der ist gefährlich!
In der Ehe mit der EU kriselt es. Die Hälfte der befragten Briten will die Scheidung. Weil sie die verrückten Europäer nicht mehr aushalten?
Schweizer verstehen, warum wir fragen: Zieht die EU uns runter – oder beflügelt sie uns? Sie leben in einem reichen, sicheren, perfekten Land. Fast alle EU-Institutionen sind schlechter als die der Schweiz.
Wie fällt die britische Antwort aus?
Gemischt. Einige europäische Gesetze sind besser, etwa bei Menschen- und Arbeitsrechten. Bei Grenzkontrollen und der Justiz ist Grossbritannien stärker. Wägen die Briten die Vor- und die Nachteile ab, sind viele verwirrt.
Und wo stehen Sie selbst?
Aus meiner Sicht wäre ein Brexit ein Desaster. Grossbritannien sollte in der EU bleiben.
Echte Liebe gab es im Verhältnis zwischen EU und Briten aber nie.
Die Briten hatten nie den gleichen inneren Drang zur EU wie die Franzosen und die Deutschen. Frankreich wollte Deutschland kontrollieren, die Deutschen wollten Abbitte leisten für den Zweiten Weltkrieg, gleichzeitig Macht innerhalb einer klaren Struktur. Italien oder Spanien glaubten, durch den EU-Beitritt der modernen Welt beizutreten.
Und Grossbritannien?
Das Land hat keine Probleme mit der eigenen Geschichte. Kriege gewonnen, die Freiheit verteidigt. Es hat eine gloriose Vergangenheit, bankrott zwar, aber glorios.
Sie leben in Grossbritannien, sind aber Schweizer …
… ja, ich darf nicht einmal abstimmen. Kommt der Brexit, hätte ich ein echtes Problem, dann muss ich England verlassen. Ich kann nur in London leben, weil die Schweiz bilaterale Verträge hat mit der EU.
Für die Brexit-Befürworter ist die Schweiz ein Vorbild …
… was falsch ist. Die Schweiz ist parallel zur EU gewachsen, aber ausserhalb von ihr. Das ging sehr langsam, mit vielen Deals und viel Diplomatie. Die Schweiz ist nie aus der Europäischen Union ausgetreten, sie ist gar nicht drin.
Die Briten sind mittendrin!
Würden die Briten austreten, wäre das eine Katastrophe. Im Nu müssten neue Verträge mit der EU ausgehandelt werden – womöglich mit Präsident Trump im Weissen Haus. Das wäre höchst unangenehm. Wir Schweizer wissen ja: EU-Unterhändler sind keine Schmusekater.
Warum sind Sie nie Brite geworden?
Es war nie nötig. Zudem habe ich immer gedacht, bei einem Atomkrieg kann ich in die Schweiz zurück.
Was sind Sie? Schweizer, Brite – oder Europäer?
Ich bin verwirrt. In England fühle ich mich wie ein Schweizer …
… sprechen Sie denn Deutsch?
Nicht wirklich gut. Kaum bin ich in der Schweiz, sage ich: «Nein, von hier bin ich nicht.» Nirgends bin ich schweizerischer als in England.
Fühlen Sie sich als Europäer?
Nicht sonderlich. Ehrlich gesagt, weiss ich nicht, was das bedeutet.
Wie gut passen Briten zur EU?
Das Vereinte Königreich bringt der EU viel. Es hindert Deutsche und Franzosen daran, Dummheiten zu machen. Das ist die zentrale Aufgabe der britischen Diplomatie. Zudem sind Briten nützlich, die schlechten Ideen der Franzosen zu blockieren.
Warum will trotzdem die Hälfte aller Briten raus aus der EU?
David Cameron sagte mir unlängst, «nur Männer über 50 wollen aus der EU». Der Brexit ist eine Idee älterer Herren – von Männern also, die glauben, sie bräuchten niemanden und könnten alles alleine.
Was wird den Ausschlag geben?
Geschäft und Gefühle. Wobei die Gefühle töricht sind: Man kann Europäer innerhalb wie ausserhalb der EU sein. Klar ist: Wir werden weiterhin französische Filme schauen.
Wie sieht es mit dem Geld aus?
Beim Brexit geht es einzig ums Geschäft. 98,9 Prozent der britischen Geschäftsleute wollen in der EU bleiben. Klar, sie mögen weder die Bürokraten in Brüssel noch die europäischen Parlamentarier.
Und wollen trotzdem bleiben?
Grossbritannien ist klein, zählt nur 65 Millionen Menschen. Wer mehr Menschen als Kunden will, geht nicht sofort auf die andere Seite der Welt. Deutschland und Frankreich liegen näher als China. Aus Sicht meiner Freunde in der Geschäftswelt wäre der Brexit eine Katastrophe.
Sie tönen wie ein flammender EU-Verfechter. Soll auch die Schweiz beitreten?
Nein. Ich bin gegen einen Schweizer EU-Beitritt, aber für den britischen Verbleib.
Eine paradoxe Haltung.
Eben nicht. Es ist etwas anderes, die EU zu verlassen oder nie Teil der EU gewesen zu sein. Die Schweiz macht das clever. Sie hat das Beste der EU, ohne das Schlechteste zu haben. Den Briten bliebe beim Ausstieg nicht das Beste.
Letztes Jahr kam eine Million syrischer Flüchtlinge nach Europa …
… ohne Immigration würde in Grossbritannien niemand über einen EU-Austritt reden. Es gibt Ängste, dass all jene, die Merkel in ihr Land liess, morgen hier sind.
Sind die Briten nicht tolerant?
Sogar sehr tolerant. Aber derzeit kommen jährlich 300000 Menschen auf die Insel. Allein wegen dieser sehr hohen Zahl wollen so viele Briten die EU verlassen.
Jüngst wählten die Londoner einen Muslim zum Bürgermeister.
Was zeigt, wie tolerant Engländer sind. Sie fühlen sich nur ein wenig bedrängt. Unser Land ist schlecht organisiert, die Regierung unfähig, genügend Häuser, Schulen, Spitäler zu bauen. Die Deutschen haben mehr Einwanderer, aber weniger Probleme. Weil sie organisieren können, die Briten nicht.
Ökonomen warnen vor dem Brexit. Ist das nicht Panikmache?
Panikmache ist das falsche Wort. Ökonomen der Bank of England warnen – zu Recht. Die Bank of England ist ja kein Horrorfilmstudio. Sie warnt vor dem Brexit, weil die Folgen wirklich verheerend wären.
Entscheidet das am 23. Juni?
Der Brexit dürfte an der Angst der Menschen scheitern. In der Liebe ist Hoffnung stärker, nicht in der Politik. Liebe kann einem viele Vorteile verschaffen. Durch Politik aber verändert sich selten etwas zum Positiven. Und wenn, dann nur langsam.
Nicht nur in Grossbritannien verlieren traditionelle Parteien. Auch in den USA, in Frankreich und Österreich. Weshalb?
Wir suchen stets Ideen, die das Leben verbessern. Lange gab es dafür den Sozialismus. Seit Ende des Kalten Krieges hat die Linke Mühe anzugeben, wie sie das Leben verbessern will. Stattdessen präsentieren rechte Parteien autoritäre, leicht faschistische Visionen einer Gesellschaft ohne Muslime.
Wie bekämpft man die?
Es bräuchte gute Ideen in der Mitte. Vernünftige Menschen sind aber meist extrem langweilig.
Der US-Milliardär Donald Trump ist alles andere als langweilig.
Er ist charmant und ein Demagoge. Das war immer die Furcht der US-Gründerväter: Ein charmanter Demagoge kommt an die Macht. Bisher haben Amerikaner solche Figuren stets zurückgewiesen.
Warum könnte sich das ändern?
Wegen der um sich greifenden Dekadenz! Dekadenz bedeutet ja, dass man vergisst, wie schwierig es war, heutige Errungenschaften zu erreichen. Die Erinnerungen an das letzte Chaos sind verblichen. Nun denken die Amerikaner, sie könnten die Sache ein bisschen durcheinanderwirbeln. Es ist wie in einer Ehe, die langweilig geworden ist …
Man hat eine Affäre, die alles durcheinanderwirbelt?
Genau, Trump ist ein Ausdruck dieser Gefühlslage.
Was wäre Grossbritannien ohne die EU?
Viel ärmer, und isoliert. Es wäre wie Island.
Und was wäre die EU ohne Grossbritannien?
Sie wäre den Franzosen ausgeliefert. Ohne die Briten wäre die EU wie Frankreich – auf schlechte Art.
Wie wichtig ist der 23. Juni?
Superwichtig! Geht alles gut, werden die Briten die Abstimmung in fünf Minuten vergessen haben und sagen: «Ach, war das unnötig!»
Und bei einem Austritt?
Einen Brexit würde das Land fünfzig Jahre lang bedauern.
Ihre Prognose?
Die Briten bleiben in der EU, aber es könnte politisch hässlich werden: Bei einem knappen Resultat müsste Cameron gehen, und Boris Johnson droht uns als nächster Premier.