«Die Schweiz ist doch meine Heimat!»

Eine sechsköpfige tschetschenische Familie lebt in Kilchberg im Kirchen-Asyl. Ihr droht die Ausschaffung.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

kilchberg2Auf die Plätze, fertig, los! Linda (11) spurtet, kämpft und zieht den 60-Meter-Sprint durch. Schwester Marha (12) folgt ihr. Mamis und Papis fiebern am Freitagabend in Kilchberg ZH mit ihren Kindern mit. Nur Linda und Marha rennen am «Schnällschte Chilchberger» ohne Eltern im Publikum. Die müssen sich im Pfarrhaus verstecken.

Vor viereinhalb Jahren kam die Familie aus der russischen Republik Tschetschenien nach Kilchberg. Der Vater soll gefoltert worden sein. Sein Asylantrag wurde aber in letzter Instanz abgelehnt. Nach zwei fehlgeschlagenen Versuchen, sie auszuschaffen, leben die Eltern mit Anvar (15), Marha, Linda und Mansur (4) im Kirchenasyl. «Es ist eines Landes wie der Schweiz nicht würdig, diese Kinder auszuweisen», sagt Francesca Bürgin (48). Ihre Tochter Melanie (11) ist Marhas beste Freundin. «Man muss gar nicht lange googeln, um zu wissen, was in Tschetschenien los ist.»

Bürgin geht es nicht um Politik. «Wir kritisieren weder die Beamten noch das Asylverfahren. Es geht um voll integrierte Kinder, die darf man nicht einfach entwurzeln!»

kilchberg1Familie M. lebt von Spenden, sie gilt als abgetaucht, wohnt unentgeltlich bei der reformierten Pfarrerin. Zuvor bewohnte sie eine Sozialwohnung, mitten in der Gesellschaft. «Sie waren vom ersten Tag an ein Teil des Dorfes», sagt Bürgin. «Die Kinder fielen rasch positiv auf, ihre Eltern engagierten sich.»

Gestern Samstag: Im Garten der Bürgins treffen die vier Kinder Reporter von SonntagsBlick. Der kleine Mansur trollt sich. Anvar möchte nichts sagen, fotografieren lässt sich der Teenager nicht. Die beiden Mädchen aber erzählen – auf Züritüütsch. Viertklässlerin Linda will Ärztin werden, «weil ich gerne Menschen helfe». Marha, bis zu den Sommerferien in der fünften Klasse, mag Tiere, möchte Tierärztin sein.

Als sie ankamen, konnten sie knapp «Hallo» sagen. Zwei Jahre besuchten sie Stützkurse, heute haben beide im Zeugnis je eine 5–6 in Deutsch. Untereinander und mit dem Vater reden die Kinder deutsch, mit der Mutter tschetschenisch.

Linda mag die Schweiz. «Es ist schön hier, friedlich, es hat viele nette Menschen, und ich habe gute Freundinnen.» Ihre liebste Freundin? «Sie heisst Sofia und ist Polin.» Fondue isst sie gerne, Raclette «nicht so sehr».

kilchberg3Letzten September wollte die Polizei die Familie nachts abholen – und ausschaffen. Wie hat Marha das erlebt? Die Frage lässt das Mädchen erstarren. Sie weint, steht auf und geht. Noch immer plagt sie ein schlechtes Gewissen, weil sie damals um 3.30 Uhr die Tür öffnete.

Marha kommt zurück und sagt, sie denke ständig an die Situation ihrer Familie, fürchtet um ihren Vater. «In meinem Kopf kämpft die Hoffnung gegen die Angst», sagt sie. «Geht es mir gut, ist die Hoffnung stärker, geht es mir schlecht, gewinnt die Angst.» Dann denke sie an etwas Schönes, «an die Menschen, die uns unterstützen». Wieder weint sie. «Schön zu wissen, dass Kilchberg hinter uns steht.»

Am 19. April kam die Polizei erneut. Die Familie war abwesend, ihre Wohnung leer. Danach zog sie in die Kirche. «Als wir wegrannten, dachte ich, ich müsste mein Leben aufgeben», so Linda. Jetzt fürchte sie, die Polizei hole sie im Pfarrhaus ab. «Dann müsste ich meine Freundinnen verlassen, das wäre das Schlimmste.» Was wünscht sich Marha? «Mein einziger Wunsch ist, hier bleiben zu dürfen. Die Schweiz ist doch meine Heimat!»