Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)
Forsch öffnet Andrea Meyer (51) die Holztür der Kirche von Wassen UR, führt zum kunstvoll verzierten Altar. «Nein», sagt sie, «das ist kein Chileli, es ist eine Kirche!»
Schuld an der Verniedlichung? «Emil!», sagt die Pastoralassistentin des Seelsorgeraums Urner Oberland, zu dem Wassen mit 444 Einwohnern gehört. In einem seiner berühmtesten Sketches verewigte der Luzerner Kabarettist Emil Steinberger (83) «S Chileli vo Wasse», das man vom Zug aus wegen der Kehrtunnel dreimal sieht. «Selbst ich habe immer ‹Chileli› gesagt», so Meyer. «Den Einheimischen ist aber wichtig: Es ist eine Kirche.» Zumal es «kein niedliches, sondern ein standhaftes Gotteshaus auf dem Felsen von Wassen ist».
Bald aber verschwindet die Kirche aus der Sicht vieler Reisenden. Gleiten die Züge ab Dezember durch den neuen Gotthard-Basistunnel, sieht man die Kirche von Wassen nicht mehr. Ein Stück Kultur gehe verloren, so Meyer. «Verschwindet die Kirche, verschwindet Uri, sie ist für den Kanton ein Wahrzeichen.»
Oft fuhr sie an ihr vorbei. Den ersten Gottesdienst darin zu feiern, war emotional. «Jetzt bin ich traurig, dass die Kirche aus unserem Bewusstsein entgleitet – zumal die meisten sie noch nie von innen gesehen haben.»
Die Kirche von Wassen, 1734 fertiggestellt, ist dem heiligen Gallus geweiht. Als Schutzpatronin amtet die heilige Barbara. Einst übernachteten hier Pilger auf dem Weg nach Rom. Stirbt ein Mann in Wassen, läuten die Glocken dreimal fünf Minuten lang, bei einer Frau zweimal.
Meyer bewarb sich 2007 für die Stelle im engen Tal. Weil sie die Berge mag. «Und Menschen, die ehrlich und bodenständig sind.»
Zudem sei hier direkte Seelsorge möglich. «Man kennt sich, jeder weiss, wer mit wem verwandt ist.» Sogar an den Föhn, «den ältesten und stärksten Urner», habe sie sich gewöhnt.
Heute ist die Kirche für Meyer «ein Stück Heimat», ein Ort der Freude und des Leids. «Wir feiern Weisse Sonntage, Taufen, trauern an Beerdigungen.»
Fünf Hotels bewirten Gäste im Dorf, es hat einen Volg und ein Altersheim. Für 100 000 Franken ist die einstige Raiffeisen-Bank zu haben, ein mächtiges Haus im Dorfkern.
Einmal die Woche liest Meyer in Wassen die Messe, mit zehn bis 70 Gläubigen. «Die meisten Häupter sind grau.» Junge verlassen das Tal, es gibt kaum Arbeit. Aus Not schlossen sich sechs Kirchen zu einem Seelsorgeraum zusammen. Deren beide Pfarrer sind über 80 Jahre alt, die meiste Arbeit erledigen nicht geweihte Personen wie Meyer. «Die betagten Priester sind froh, müssen sie nicht mehr immer ausrücken.»
Sie erledige alles, ausser Sakrament zu spenden. Erhalte sie dazu einen Auftrag, könne sie aber ein Kind taufen. «Betonen Sie das nicht zu sehr», sagt sie. «Sonst kommt noch ein Krägelter hierher» – ein Konservativer. Und der wolle Frauen kaum Verantwortung übertragen.
Ohne Frauen könne die katholische Kirche nicht existieren. Aber: «Ich bin keine Verfechterin von Priesterinnen», sagt sie. «Für etwas, das ohnehin nicht kommt, setze ich meine Energie nicht ein.»
Weil «Gott mich rief», sei sie seelsorgerisch tätig. Mit 23 trat sie ins Kloster Baldegg im Kanton Luzern ein, weilte vier Jahre unter Franziskanerinnen. Sie studierte Kirchenmusik und Theologie. Nicht Ämter reizen sie, «sondern das Bedürfnis, die frohe Botschaft zu verbreiten». Was nicht einfach sei. «Den Leuten geht es heute so gut, es ist nicht mehr zwingend, einen Glauben zu haben, der Druck ist weg.» Was Meyer begrüsst. «Glauben soll jeder aus freien Stücken.»