Willkommen in Sumte

Ein deutsches Dorf erhält zehn Mal mehr Flüchtlinge als Einwohner – und freut sich am Boom dank Zuwanderung.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

kranzGoldgelbe Blätter fallen von den Bäumen, Gänse ziehen über die Elbe gen Süden, Holstein-Kühe grasen. Im Café treffen sich Rentner zum Kränzchen. Und sagen, was sie denken.

Es geht um «die Fremden» im Dorf, dem norddeutschen Sumte. «Da passen doch keine 1000 rein», fängt einer an. «Wir warten seit Jahren auf nächtliche Beleuchtung, jetzt sind Flüchtlinge da, und sie kommt sofort.» – «Für Griechen, Banken, Flüchtlinge ist Geld da, nicht aber für uns.» – «Bei denen ist Krieg, die brauchen doch Hilfe.» – «Jede Minute bricht in Deutschland einer ein, aber die Polizei kümmert sich nun um Flüchtlinge.» – «Die Sache kippt, weil das Volk nichts kriegt.»

Es ist Herbst in Deutschland, und es ist kompliziert geworden. Bis Oktober kamen 758000 Flüchtlinge, sie wurden an Bahnhöfen mit Blumen und Teddybären empfangen. Jetzt sind sie da. Und nirgends ist das deutlicher als in Sumte, unweit der Elbe. Das schmucke Dorf östlich von Hamburg zählt 102 Einwohner. Bis Freitag waren 229 Flüchtlinge aus 19 Ländern angekommen. In fünf Tagen werden es 750 sein – vermutlich bald 1000, untergebracht in einem einstigen Bürokomplex mitten im Dorf.

Das krasse Verhältnis zwischen Einheimischen und Flüchtlingen sorgt weltweit für Aufsehen. Reporter der «New York Times» waren da, vom arabischen Sender Al Jazeera ebenfalls.

Mächtige Niedersachsenhäuser säumen die Dorfstrasse. Es riecht nach Natur und nassem Laub. Gefleckte Pferde galoppieren hinter Holzzäunen.

Hier lebt der pensionierte Elektriker Karl-Otto Burmann (67). Er half 1993 beim Bau der Büros, in denen die Flüchtlinge leben. 270 Personen stellten dort Inkasso-Rechnungen aus. Dann zog die Firma nach Hannover. Weg war der wichtigste Arbeitgeber. Burmann half mit, die eingemotteten Gebäude wieder instand zu stellen: «Jetzt bringen uns die Flüchtlinge neue Stellen.»

Und doch ist er unwirsch. Weil er erst in der Zeitung von der Unterbringung erfahren hat. «Das ist, wie wenn du einen Hammer auf den Kopf kriegst.» Das Abwasser bereitet ihm grosse Sorgen. «Was, wenn 1000 zusätzlich die Toilette benutzen?»

Die Flucht war einfacher
Burmann sagt, was in Deutschland mancher denkt: «Gegen Kriegsflüchtlinge habe ich nichts, sie aufzunehmen ist doch richtig; aber wir können nicht jeden unkontrolliert ins Land lassen. Frau Merkel hätte es nicht im Alleingang tun sollen.»

Vor seinem Haus geht eine syrische Familie vorbei. «Hello!», ruft Burmann. «Leider kann ich nicht so gut Englisch, wir lernten Russisch.» Sumte gehörte einst zur DDR. Die Syrer winken zurück. Sie kamen über den Balkan. Roukaya (10) spricht ein paar Worte Englisch, übersetzt für Bruder Omar (8), Mutter Nada (34) und Vater Ahmad (30), einen Mechaniker. Seit zwei Wochen sind sie in Europa. Jetzt warten sie auf den Bus, der sie zum Zug nach Hannover bringen soll. Sie besuchen Freunde – und wirken fremd auf dem flachen Land. Irgendwie verloren, können kein Deutsch, finden die Haltestelle nicht. Haben Angst vor Reportern.

Es ist anders als zuvor auf der Flucht, komplizierter eben. Damals ging es darum, das Meer zu überqueren, den Weg zu finden, weiterzukommen. Diese Ziele waren zu schaffen. Jetzt müssen sie warten, aushalten, zur Menschlichkeit zurückfinden, sich anpassen, ohne sich zu verleugnen.

Ihnen hilft Jens Meier (57), kräftig und gross. Er leitet die Notunterkunft in Sumte. Oberstes Gebot: «Sie müssen sich sicher fühlen.» Verbinden will er die neue Min­derheit – die Einwohner – mit der
neuen Mehrheit, den Flüchtlingen.

Täglich bespricht er mit den lokalen Behörden die Lage. Er hat einen Shuttlebus organisiert, der Flüchtlinge ins vier Kilometer entfernte Neuhaus fährt. Dort hat es Geschäfte und ein Café. Am Donnerstagvormittag fährt der Bus nicht, dann ist Markt und der Ort angeblich zu voll für Flüchtlinge.

jens_meier55 Stellen hat Meier bisher besetzt, 33 mit Personen aus der Gemeinde Amt Neuhaus, zu der Sumte gehört. Darunter fünf Sumter. Eine Mutter betreibt mit drei Töchtern den Kiosk in der Notunterkunft. Ein lokaler Lehrer erteilt Deutschkurse. Das Dorf erhält ein verbessertes Handynetz, wohl drahtloses Internet. Zwischenfälle blieben bisher aus. «Der von Me-dien dargestellte Fremdenhass ist nirgends zu spüren», sagt Meier.

Bis Ende Woche kommen täglich 50 bis 100 Flüchtlinge in Bussen. Nicht alle wollen bleiben. «Wo gibt es bessere Lager in Deutschland?», fragen zwei Algerier, die durchs Dorf gehen. «Es hat keinen Fernseher, kein Internet, es ist völlig abgelegen.» Aus Kuwait kam der syrische Unternehmer Qutaiba (34). Er war beim Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 geflohen. «Am Golf werden Flüchtlinge schlechter behandelt als in Europa.» Er hat Geld, ihm gefällt es nicht in der Unterkunft. «Der Schlafsaal ist zu gross, Frau und Kind haben Angst.» Er ruft lokale Hotels an, doch die sind ausgebucht.

Etwa das Hotel Hannover von Dirk Baumann (49). «Gut» seien die Flüchtlinge für die Region: «Unser Haus ist über Wochen voll.» Viele Firmen profitierten. Wohl deshalb sei die Kritik längst verstummt.

Boom dank Flüchtlingen
Sumte wittert einen Boom. Seit Jahren schrumpfe die Bevölkerung, Familien mit Kindern ziehen weg, der Arbeit hinterher. «Die Flüchtlinge bringen die Wende», sagt Reinhold Schlemmer (72), dessen Haus neben der Notunterkunft steht. Er lebt seit 1968 hier, war Bürgermeister, rechnet: «Bleiben 100 Flüchtlinge hier, verdoppelt sich die Bevölkerung, wir erhalten doppelt so viel Schlüsselzuweisung», Geld vom Land. «Zuwanderer sanieren uns.»

Vom «grössten deutschen Wirtschaftsprogramm seit der Wende» spricht Hotelier Klaus Karnatz. Seine Rechnung: Pro Flüchtling erhalte die Ge­meinde vom Bund monatlich 400 Euro. «Bei 1000 Flüchtlingen sind das 400000 Euro im Monat, fast fünf Millionen im Jahr», so Karnatz. «Mehr als der Tourismus bringt.» Zwar würden Bürgermeister gerne jammern. «Aber keiner gibt einen einzigen Flüchtling ab, weil alle das Geld wollen.»

Die Rentner beim Kaffeekränzchen jammern mit. «Eine Sauerei» hätten Flüchtlinge in der Turnhalle hinterlassen, wo sie duschen, sagt einer. Nicht 100 würden bleiben, «sondern der Grossteil», sagt ein anderer. «Ach, mach dir mal keine Sorgen, die hauen wieder ab, hier hat es ja nichts!» – «Merkel hat gesagt, die sind nach einem Jahr weg.» – «Und du glaubst Merkel noch?» Hat das Folgen für die Wahlen in zwei Jahren? «Merkel wird nicht mehr gewählt.» – «Wer sonst? Bis dann ist das eh vorbei!» – «So schnell hört das nicht auf, zwar ist bald Winter, aber dann kommt der Frühling und somit noch mehr Flüchtlinge.»