Das Endspiel

Die WM 2006 gekauft? Ein Verfahren gegen Beckenbauer? Jeder gegen jeden? Klar ist: Die alte Fifa von Sepp Blatter fällt auseinander.

Von Peter Hossli und Andreas Böni

blatter_platini_beckenbauerEs dürfte im Frühling 2000 gewesen sein, vor 15 Jahren. Franz Beckenbauer (70), genannt der Kaiser, hatte ein Problem. Und einen reichen Bekannten.

Das Problem: Der einstige Libero leitete das deutsche Bewerbungskomitee für die Fussball-WM 2006. Für den Zuschlag fehlten ihm Stimmen.

Der reiche Bekannte: Robert Louis-Dreyfus (†2009), Chef beim deutschen Sportartikel-Riesen Adidas.

Stimmen kann man kaufen. Louis-Dreyfus, von seinen Freunden RLD genannt, lieh den deutschen Bewerbern 10,3 Mio. Franken. Wahrscheinlich als Schmiergeld. Über schwarze Konten soll es an vier asiatische Fifa-Mitglieder geflossen sein. Alle vier stimmten am 6. Juli 2000 in Zürich für Deutschland.

Mit dieser Enthüllung schockierte das Magazin «Der Spiegel» am Freitag die Welt. Ausgerechnet der moralische Musterknabe Deutschland soll tief im Fifa-Sumpf stecken.

Und mittendrin zwei Schwergewichte des Sports: Beckenbauer und der Präsident des Deutschen Fussball-Bundes (DFB), Wolfgang Niersbach (64). Beide sollen laut «Spiegel» vom Stimmenkauf über schwarze Kassen gewusst haben. Fussballlegende und WM-Botschafter Günter Netzer (71) soll ebenfalls informiert gewesen sein.

«Damit haben wir die vier Asiaten bezahlt», habe er noch 2013 auf die Frage geantwortet, was mit dem Geld passiert sei. Heute bestreitet er die Aussage. Einen knallharten Beleg liefert das Magazin nicht. Doch sein Bericht hat bereits erste Konsequenzen: Die Ethikkommission der Fifa prüft, wie SonntagsBlick erfuhr, ob sie ein Verfahren gegen Niersbach und Beckenbauer einleiten soll. Niersbach müsste wohl sein nächstes Ziel begraben: Präsident der europäischen Fussballunion Uefa zu werden.

Für den Strafrechtsprofessor Mark Pieth (62) ist die «Spiegel»-Geschichte «ein weiterer Hinweis für etwas, das man schon lange vermutete», aber nur «eine Kette von Indizien». Klar sei: «Korruption gibt es nicht nur im Süden, Korruption gibt es bei uns.» Es sei daher nicht auszuschliessen, «dass der DFB bestochen hat, ich nehme die Deutschen a priori nicht aus».

Der beschuldigte DFB-Präsident Niersbach kontert. Dass es die vom «Spiegel» beschriebenen schwarzen Kassen gab, schliesse er «absolut und kategorisch» aus. Zu Stimmenkäufen sei es «ganz sicher nicht» gekommen. «Das kann ich allen Fussball-Fans versichern.»

Fifa im freien Fall
Und doch zeigt die Enthüllung: Der Weltfussball befindet sich im freien Fall. Das Endspiel hat begonnen. Aus Sicht von Pieth muss die alte Fifa, das Modell des Wallisers Sepp Blatter (79), «zerschlagen werden». Es brauche für zwei Jahre
einen Übergangspräsidenten. Sein Wunschkandidat: der einstige DFB-Präsident Theo Zwanziger (72). «Es muss jemand sein, der den Fussball kennt, ohne Machtansprüche zu haben.»

Noch ist dies Zukunftsmusik. Hier und jetzt brennt die Fifa – lichterloh. Jeder versucht zu retten, was er kann. Präsident Blatter ist suspendiert, ebenso sein denkbarer Nachfolger, Uefa-Präsident Michel Platini (60). Dennoch verbreiten Vertraute Durchhalteparolen: Blatter kehre kurz zurück, Platini werde ihn bald beerben. Was unwahrscheinlich scheint. Laut «Welt» drohen Platini und Blatter Sperren von je fünf Jahren.

Zwanziger glaubt, die Fifa werde heute von Schweizern wie US-Staatsanwaltschaften und der Bundespolizei FBI geführt. Von «Chaos» spricht Pieth. «Der Kampf um die Fifa ist voll entbrannt», so Blatter-Berater Klaus J. Stöhlker (74).

Es ist ein Kampf in vielen Nächten der langen Messer. Jeder gegen jeden. Wer kann, reisst beim Fallen möglichst viele in den Abgrund. Einer deutet den Artikel im «Spiegel» als «Konter des Präsidenten». Der angezählte Walliser sei «auffallend guter Laune»; er werde «im Wallis zweimal lange schlafen und dann angreifen».

Ziel seines Angriffs sei ein altes: Deutschland. Als Beckenbauer für 2006 Stimmen brauchte, war Blatter gegen eine deutsche WM. Er wollte sie nach Südafrika vergeben, mit dem Volkshelden Nelson Mandela (1919–2013) feiern – solange dieser noch gesund war. Blatter kränkt, dass deutsche Fans ihn an der deutschen WM auspfiffen, deutsche Medien ihn zum Betrüger stempeln. Er gibt Deutschen und Franzosen die Schuld, dass die WM 2022 nach Katar vergeben wurde. Blatter selbst war dagegen.

Doch steckt er wirklich hinter der «Spiegel»-Enthüllung?

Blatter streitet ab, belegen lässt es sich nicht. Laut «Spiegel» flossen 6,7 Millionen Euro vom DFB zurück an Louis-Dreyfus – über Konten der Fifa. Bei einem Betrag dieser Höhe war Blatter höchstwahrscheinlich informiert.

Wusste er von der Überweisung, konnte er jederzeit eine Bombe zünden. Eines Tages würde er das tun – wie jetzt, wo er schon entmachtet scheint. «Blatter hat überall Leute», erzählt einer. «Will er etwas anstossen, so kann er das.»

Grund zur Rache haben auch andere. Der jüngst entmachtete Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke (55) soll sich für den Rauswurf an Pla­tini und Blatter rächen wollen. Platini wolle Blatter belasten. Ex-DFB-Boss Zwanziger möchte Niersbach als Uefa-Chef verhindern.

Einige wetzen die Messer, andere dürften zittern. «Lasst den Blatter in Ruhe», sagte der Bundesliga-Coach Martin Schmidt am Freitag zu Journalisten. «Der geht nicht allein unter.» Was Schmidt (48) einen «flapsigen Spruch in
kleiner Runde» nennt, trifft sicher zu.

Die Bank des deutschen Sports
Der französische Industrielle Robert Louis-Dreyfus (1946–2009) war so etwas wie die Privatbank des deutschen Sports: Vier Jahre nach seinem Tod wurde bekannt, dass er dem Bayern-Manager Uli Hoeness (63) im Jahr 2000 zum Zocken an der Börse 20 Millionen Mark überlassen hatte. Louis-Dreyfus führte damals den Sportartikel-Konzern Adidas. Ein Jahr nach dem Darlehen an Hoeness verlängerte Bayern den Vertrag mit dem deutschen Ausrüster – obwohl der amerikanische Konkurrent Nike mehr bezahlt hätte. Bayern München bestreitet einen Zusammenhang. Laut «Spiegel» soll der Franzose dem Deutschen Fussballbund 10,3 Millionen Franken geliehen haben, um Stimmen für die WM-Vergabe von 2006 zu kaufen. Klar ist: Louis-Dreyfus stieg 1993 bei Adidas ein. Der Konzern mit dem Drei-Streifen-Logo steckte tief in der Krise; bald schrieb der Turnschuhhändler wieder schwarze Zahlen: Adidas galt in Berlin, in Barcelona (E) und bei Rappern in der Bronx als chic. Die WM in Deutschland würde das Geschäft zusätzlich ankurbeln. Louis-Dreyfus verkaufte über eine Agentur TV-Rechte für Europa. Die konnte er mit Fussballmatches in Deutschland besser vermarkten.