Von Peter Hossli und Katia Murmann Foto: Pascal Mora
Es ist das Thema des Jahres: Gegen eine Million Menschen gelangen über den Balkan und das Mittelmeer nach Europa. Sie fliehen vor Diktatoren in Afrika, aus Bürgerkriegsgebieten in Syrien, Irak und Afghanistan. Sie liefern sich Schleppern aus, erdulden unmenschliche Strapazen, riskieren Verhaftungen – in der Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit und eine bessere Zukunft für ihre Kinder.
Europa reagiert mit Mitgefühl, Ratlosigkeit und Angst. Deutschland und Schweden heissen Flüchtlinge willkommen. Italien und Griechenland schicken sie weiter. Ungarn errichtet Zäune aus Stacheldraht. Serbien wird zum Puffer. Gewissenhaft bereitet sich die Schweiz vor, die bisher noch nicht stark betroffen ist.
Die Flut der Bilder und die Schicksale überfordern viele. Es tauchen Fragen auf. Warum geschieht das gerade jetzt? Wie verändert die Zuwanderung Europa, die Schweiz? Was passiert mit einem Kind, das eine Flucht erlebt hat? Wir versuchen, Antworten zu finden. Klar ist: Das Thema wird uns noch lange beschäftigen.
Zumal es Menschen betrifft. Jene, die schon hier sind. Und jene, die noch kommen.
Wer ist schuld an der Flüchtlingskrise?
Wegen des Bürgerkriegs sind 11,6 Millionen Syrer auf der Flucht. Zudem vertreibt das Taliban-Regime in Afghanistan Menschen aus ihrer Heimat. Seit dem Abzug der USA aus Irak ist das Zweistromland labil, viele flüchten. Die Balkanroute wird häufiger benutzt, da Ägypten von Syrern ein Visum verlangt.
Wie viele Flüchtlinge kommen?
Bis zum 17. September kamen dieses Jahr 473887 Flüchtlinge über das Mittelmeer und die Ägäis in Europa an, davon 349109 in Griechenland und 121859 in Italien. Die grösste Gruppe sind Syrer mit 182085, gefolgt von den Afghanen mit 50177; aus Eritrea kamen 30708, aus Pakistan 11289. Bis Ende August stellten 19668 Personen in der Schweiz einen Asyl-Antrag; davon 7540 Eritreer, 1424 Syrer und 1271 Afghanen.
Wie viele starben auf der Flucht?
Dieses Jahr sind im Mittelmeer 2812 Flüchtlinge ertrunken. In Afrika kamen 226 Personen ums Leben, die nach Europa fliehen wollten; in Europa starben 113 Menschen. Seit 2000 starben mehr als 30000 Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa.
Warum bleiben Flüchtlinge nicht in lokalen Lagern?
Von 11,6 Millionen Syrern auf der Flucht sind sieben Millionen in Syrien, vier Millionen haben in der Türkei, im Libanon und Jordanien Schutz gefunden. Das UNHCR, das Flüchtlingshilfwerk der Uno, hat für das Jahr 2015 ein Budget von 5,18 Milliarden Dollar. Davon hat die Weltgemeinschaft nur 36 Prozent gesprochen. Es fehlt an Geld, Flüchtlinge in der Nähe der Krisengebiete zu versorgen. Daher gehen viele nach Europa.
Was macht die Flucht mit der Psyche von Kindern?
«Eine Flucht ist ein sehr belastendes Ereignis», sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Fana Asefaw von der Privatklinik Clienia in Littenheid TG. «Tiefe Verunsicherung und posttraumatische Belastungsstörung können die Folgen sein.» Ob und wie sich ein Kind erholt, hänge vom Ausmass des Traumas ab. Und von den Umständen – etwa, ob es allein oder mit Familie auf der Flucht war. Aber: «Kinder haben eine erstaunliche Widerstandskraft.»
Warum kommen weniger Flüchtlinge in die Schweiz?
Entscheidend sind die geografische Lage der Schweiz sowie die bereits Angekommenen und die Willkommenskultur in Deutschland. In die Schweiz kommen vornehmlich Eritreer, die über Italien einreisen. Sie ziehen andere Eritreer an. Syrer reisen vor allem auf der Balkanroute. Diese führt über Deutschland. In Deutschland können Syrer rascher arbeiten als in der Schweiz.
Führt die Schweiz Grenzkontrollen ein?
Freies Reisen im freien Europa – diese Formel gilt angesichts der Flüchtlingskrise nicht mehr. Soll die Schweiz ihre Grenzen wie Deutschland stärker sichern? Ja, sagen 60 Prozent der Befragten in einer online Umfrage von Blick.ch, an der über 40000 Personen teilnahmen. Einfach ist das nicht. Europaexperte Dieter Freiburghaus (72): «Die Schweiz kann nur dann Grenzkontrollen einführen, wenn sie einen Notstand hätte.» Was nicht der Fall sei. «Der Druck müsste deutlich grösser sein.»
Welche Krankheiten schleppen die Flüchtlinge ein?
«Zwei Drittel sind krank oder verletzt», sagt die Medizinstudentin Sofja Manjak. Sie behandelt in Belgrad Flüchtlinge mit Durchfall, Infekten oder geschundenen Füssen. «Asylsuchende sind keine Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung in der Schweiz», so das Bundesamt für Gesundheit. «Bei übertragbaren Krankheiten ist das Risiko einer Einschleppung durch den Touristen und Geschäftsleute wesentlich grösser als durch Asylsuchende.»
Warum reagiert Europa so hilflos?
«In der augenblicklichen Situation ist es offensichtlich, dass die auf dem Papier stehende Asylpolitik nicht funktioniert», sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (61). Das Dublin-Abkommen sei nur bei geringen Flüchtlingszahlen effektiv, sagt EU-Experte Freiburghaus. Eine gemeinsame Strategie für viele Flüchtlinge hat die EU nie formuliert. Dabei zeige die Krise: Nationale Lösungen helfen nicht mehr. «Die EU braucht eine einheitliche Politik. Sie wird kommen, aber es wird noch eine Weile dauern.» Seit Jahren bitten Italien und Griechenland um Hilfe bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Europa hatte anderes zu tun: Der Krieg in der Ukraine, die Rettung Griechenlands. Freiburghaus: «Da blieb für Flüchtlinge schlicht keine Zeit.»
Verletzen Zäune den Dublin-Vertrag?
Nein, sagt EU-Experte Freiburghaus. Das Dublin-System besagt, dass jeder Flüchtling in dem EU-Land registriert wird, in dem er ankommt. Die Zäune in Ungarn seien grundsätzlich zulässig. Die Sicherung der EU-Aussengrenzen ist im Schengen-Abkommen festgehalten. Es enthält auch eine Notfallklausel für Binnengrenzen. Diese kommt derzeit in Deutschland zur Anwendung.
Zerbricht Europa an dieser Krise?
Zwar dreht sich im Moment alles um Flüchtlinge, das wichtigste Element der EU ist aber der Binnenmarkt. Und da, so EU-Spezialist Freiburghaus, «läuft alles bestens». Zudem könne die EU nicht zerbrechen. «Sie ist kein Staat, deshalb kann ihr ein Staatsstreich nichts anhaben.» Der Austritt eines Landes wäre zu verkraften. «Die EU ist ein skurriles Gebäude, das lange bestehen wird», sagt Freiburghaus. «Die jetzige Krise ist eine Herausforderung, an der das System wohl letztlich wachsen wird.»
Welche Lösungen gibt es?
Kanzlerin Angela Merkel möchte in Italien, Griechenland und Ungarn von der EU geleitete Empfangszentren einrichten. Dort sollen alle ankommenden Flüchtlinge registriert werden und proportional an die verschiedenen EU-Länder verteilt werden. Die Schweiz beteiligt sich an dieser Verteilung. Auch die USA, Australien, Neuseeland sowie Länder Lateinamerikas wollen Syrer aufnehmen.
Wie geht es nun weiter?
Bald ist Winter. Der Weg über das Mittelmeer wird beschwerlicher, das Meer rauer. «Deshalb werden über diese Route weniger Menschen kommen», sagt Stefan Frey von der Flüchtlingshilfe. Mit einer Entspannung rechnet er nicht. «Was wir jetzt sehen, ist erst der Anfang. Ich gehe davon aus, dass sich in den nächsten zwei Monaten massiv mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen.» Flüchtlinge in Syriens Nachbarländern hätten die Hoffnung auf Rückkehr aufgegeben. Frey: «Ich fürchte, dass Hunderttausende kommen. Vor dem Winter wollen sie sich und ihre Familien ins sichere Europa bringen.»
Was bringen Flüchtlinge unser Wirtschaft?
Von der «Last der Flüchtlinge» ist oft die Rede. Amerikanische, britische und dänische Ökonomen belegen: Flüchtlinge beflügeln die Wirtschaft des Gastlandes. Anfänglich entstehen Kosten bei ihrer Unterbringung und Ausbildung. «Mittel- und langfristig sind Flüchtlinge eine ausgesprochen profitable Investition», so Michael Clemens von der amerikanischen Denkfabrik Center for Global Development. Es dauere wohl ein paar Jahre, bis Flüchtlinge wieder auf die Füsse kommen. Danach aber verdienen sie im Schnitt mehr als die einheimische Bevölkerung und tragen zum Wohl ihres Gastlandes bei.
Wie erfolgreich sind Flüchtlinge?
Weit verbreitet ist die Angst, Flüchtlinge nähmen Einheimischen ihre Jobs weg. Das Gegenteil ist der Fall. Viele Flüchtlinge und ihre Kinder sind erfolgreich, gründen eigene Firmen und schaffen Arbeitsplätze. So floh etwa Andrew Grove 1956 aus Ungarn in die USA. Die von ihm mitgegründete Firma Intel beschäftigt heute 106000 Menschen.
Wie integrieren wir die Flüchtlinge?
Sprache und Arbeit sind die wichtigsten Schlüssel zur Integration. «Wer unsere Sprache nicht beherrscht, fühlt sich ausgegrenzt und kann sich nicht integrieren», sagt Christoph Eymann, Erziehungsdirektor von Basel, wo es Kindergärten mit über 50 Prozent fremdsprachigen Kindern gibt. Eymanns Departement bietet deshalb Sprachkurse schon vor dem Kindergarten an. Auch die Eltern sollen Deutsch lernen. «Integration kann gelingen», so Eymann. «Es braucht aber einen Effort von beiden Seiten.»
Wie verändern die Flüchtlinge unsere Gesellschaft?
Mit nichts als den Kleidern, die sie auf dem Leib tragen, machen sich viele auf den beschwerlichen Weg nach Europa. Was sie mit in die neue Heimat bringen, sind ihre Traditionen und ihr Glaube. Christoph Eymann (LDP) weiss, wo die Herausforderungen für unsere Gesellschaft liegen. Der Erziehungsdirektor aus Basel: «Einwanderer, die erst kurz in der Schweiz sind und noch wenig verdienen, zieht es oft an den gleichen Ort.» Dorthin, wo die Mieten tief sind und Landsleute wohnen. «Da besteht die Gefahr, dass sich Parallelgesellschaften bilden, in denen die Flüchtlinge nach eigenen Regeln leben», so Eymann. Das müsse der Staat verhindern. «Es braucht eine gesunde Durchmischung in den Quartieren und klare, verbindliche Regeln für das Zusammenleben.» Eine Art Hausordnung also, zu der sich alle bekennen. Die Geschichte zeigt, dass heterogene Gesellschaften wie etwa die in den USA Flüchtlinge weit nachhaltiger integrieren als homogene Länder wie Japan. An Leib und Leben bedrohte Menschen neigen dazu, sich besser zu integrieren als Wirtschaftsmigranten. Echte Flüchtlinge zeigen sich dankbar für den Schutz und möchten im Gastland etwas leisten.
Beeinflusst die Flüchtlingskrise die Wahlen?
Politologe Michael Hermann sagt: «Die Flüchtlingsthematik hat sich bereits ausgewirkt. Anfang Jahr diskutierte die Schweiz über wirtschaftliche Themen wie den starken Franken. Davon profitierten eher die FDP und die SP. Nun aber prägen die Flüchtlinge die Berichterstattung. Das dürfte wohl der SVP Auftrieb geben. Vielleicht auch den Grünen, die hier die stärkste Gegenposition zur Volkspartei vertreten.»
Was verdienen Schlepper?
Auf sieben Milliarden Dollar schätzt «Newsweek» den Gesamtumsatz für den einträglichen Menschenschmuggel nach Europa.