Von Peter Hossli (Text und Fotos)
Macht zeigt sich in kleinen Dingen. Die Limousine der Kanzlerin steht am roten Teppich auf dem Rollfeld. Das Gefährt der Schweizer Bundespräsidentin wartet beim Ausgang des Flughafens Bern-Belp. Angela Merkel (61) lässt sich im benzingetriebenen Auto chauffieren. Simonetta Sommaruga (55) fährt im Hybrid. Die Standarte mit dem Bundesadler an Merkels Karosse schützt bis zur Landung ein Überzug. Sommarugas Schweizerkreuz ist Wind und Wetter ausgesetzt.
Merkel kommt im Global 5000, ihrem kleinen Flugzeug. Es ist um einiges grösser als der Falcon-Jet, in dem der Bundesrat fliegt. Merkel trägt schwarze Hosen und eine violette Jacke. Das sieht nach EU-Gipfeltreffen aus, Weltbank und Weissem Haus. Sommaruga begrüsst sie im kurzärmeligen Sommerkleid, zeigt gebräunte Waden, als spaziere sie gerade durch St-Tropez. Vier Fragen nur dürfen die Journalisten an der gemeinsamen Pressekonferenz stellen. Alle vier gehen an die Kanzlerin.
Merkel holt ihre elfte Doktorwürde ab, sechs Jahre, nachdem die Universität Bern sie verliehen hat. «Gut Ding will Weile haben», sagt sie lakonisch. Sechs Jahre fand Merkel im Kalender keinen einzigen Tag Zeit für die Schweiz. Die Mächtige hatte in Zeiten ständiger Krisen halt Wichtigeres zu tun.
Eingeflogene deutsche Sicherheitsbeamte bewachen die Kanzlerin. Der Bund heuerte die Rocker-Truppe der Broncos an, um die Universität zu schützen.
Merkel beweist in Bern vor allem: Sie ist die klügste – und somit mächtigste Politikerin. Ihre Sätze sitzen, sie sagt am und neben dem Mikrofon dasselbe, spricht Klartext. Etwa: «In der augenblicklichen Situation ist es offensichtlich, dass die auf dem Papier stehende europäische Asylpolitik nicht funktioniert.»
Sie bringt deutsche Schuld und deutsche Verantwortung in einem spontanen Satz unter: «Es ist ein Glück für uns, dass Deutschland heute ein Land ist, mit dem man Hoffnungen verbindet.» Ohne Anbiederung stellt sie sich dem Fremdenhass und der Angst vor dem Islam. Dabei teilt sie aus, ohne zu verletzen. Was sie sagt, macht nachdenklich. Ob allzu offene Flüchtlingspolitik nicht fremde Werte nach Europa bringe, fragt eine Frau an der Universität. Merkel: «Es ist doch komisch, uns zu beklagen, dass Muslime sich besser auskennen im Koran als Christen in der Bibel.» Europäer beriefen sich gerne auf jüdisch-christliche Werte. Aber kaum ein Kind könne Pfingsten erklären. Statt Muslime anzugreifen, «müssten wir selbst wieder mal in die Kirche gehen».
Aus der DDR
So frei wie Merkel spricht kein anderer Politiker. Seit 2005 ist sie Bundeskanzlerin, regiert in der dritten Amtsperiode, eine vierte dürfte folgen. Längst hat sie ihren Ziehvater Helmut Kohl (85) in den Schatten gestellt. Merkel – einst selber Bürgerin der DDR – hat Deutschland eigentlich vereinigt, nicht Kohl.
Heute hält sie Europa zusammen. Griechenland? Merkel hilft. Flüchtlinge? Merkel zeigt den Weg. Arbeitslose? Sie hoffen auf Merkel als Lokomotive der europäischen Wirtschaft.
All das schafft sie ohne Vision. Einen Entwurf für die Zukunft hat sie nicht, eine Agenda 2020 fehlt. Doch: «Die Mehrheit der Deutschen hat das Gefühl, Merkel regiere das Land gut, ruhig und umsichtig. Keiner wird überfordert, weder geistig noch materiell», erklärt der deutsche Politik-Berater Michael Spreng (67) die Beliebtheit der CDU-Politikerin. Sie vereint tragende Kräfte. Deutsche haben es gerne langweilig und stabil. Wie Merkel es ist. Sie war 2013 froh, die Mehrheit im Bundestag zu verpassen. Alleinherrscher schrecken Deutsche, weiss die kluge Kanzlerin.
Die richtige Chemie
Die Schweiz hat wenig von diesem Besuch. «Es ging um Beziehungspflege», so ein Diplomat diplomatisch. «Die richtige Chemie» herrsche zwischen Kanzlerin und Bundespräsidentin, sagt einer, der dabei war.
Fortschritte beim einzigen echten Problem? Gab es nicht, konnte es nicht geben. Die Schweiz muss Kontingente einführen für die Zuwanderung aus Europa. Das widerspricht den bilateralen Verträgen mit der EU zur Personenfreizügigkeit. «Wir wollen alle Mühe aufwenden, eine Lösung zu finden», sagt Merkel.
Sie weiss: Andere EU-Mitglieder wollen die Zuwanderung beschränken. Reicht Merkel der Schweiz die Hand, brennt in der EU die Bude. Lob spricht sie aus, wo sie darf: «Wir können vom Schweizer Vorgehen im Asylverfahren lernen.»
Die promovierte Physikerin schliesst ihre Rede an der Universität Bern mit Worten des Physikers Albert Einstein (1879–1955): «Wichtig ist, dass man nicht aufhört zu fragen.» Sie weiss: Wer ständig fragt, ist mächtiger als jene, die alles schon wissen.