Sehnsucht nach Europa

Was soll ein Reporter auf der Balkan-Route? Er trifft Kinder, Profiteure, eine Greisin – und erlebt Menschlichkeit.

Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)

alte_frauAn der grünen Grenze zwischen Mazedonien und Serbien, letzten Mittwoch. Ahmed (35) trägt seine fünf Kinder über einen Sumpf, zuletzt lupft er den Kinderwagen mitsamt Baby. Er stammt aus Idlib in Syrien. Hat er Zeit für ein Interview? «Ein Interview?», fragt Ahmed zurück. «Was bringt mir ein Interview? Ich brauche ein Auto, das meine Familie nach Berlin fährt.»

Ein Satz, der sitzt. Was soll ein Reporter auf der Balkan-Route?

Den Mietwagen mit Flüchtlingen füllen, sie nach Deutschland fahren? Nach Hause fliegen statt zu berichten? Helfen? Der syrischen Lehrerin Ruba (29) trage ich die Tasche vier Kilometer bis zum serbischen Polizeiposten. Ein Afghane bittet um einen Schluck Wasser, ich überlasse ihm die Flasche ganz. Einer Familie aus Bagdad kaufe ich in Belgrad ein paar Äpfel. Das hilft kaum.

Ein Reporter hat andere Aufgaben. Er erzählt, was er sieht, so genau wie möglich, ohne zu urteilen. Lösungen hat er nicht.

Im besten Fall sorgen seine Geschichten dafür, dass die Welt hinschaut – auch dann, wenn nicht 71 Menschen in einem Lastwagen ersticken. Denn Flucht ist immer irgendwo. Jeden Tag fliehen Greise und Kinder irgendwo vor Terror. Reporter können das zeigen. Die Lösung aber müssen Politiker finden – und umsetzen.

Mit Fotograf Pascal Mora (32) reiste ich letzte Woche von Mazedonien an die ungarisch-serbische Grenze, ans Tor zu Europa. Auf dieser Route sind allein dieses Jahr über 100 000 Menschen in die EU geflohen. Ja, Menschen. Darum geht es. Es gibt sie nicht, «die Flüchtlinge», die «Syrer», die «Muslime». Jeder und jede hat einen Namen, ein Gesicht, einen Geburtstag, eine Geschichte.

Wie heissen Sie? Wie alt sind Sie? Warum fliehen Sie? Dürfen wir Sie fotografieren? Es sind einfache Reporter-Fragen. Aber die Antworten darauf machen dieses Drama fassbar.

Mustafa (30) aus Aleppo ist seit zwei Jahren unterwegs. Jetzt sitzt er mit seinen beiden Kindern auf stillgelegten Geleisen, zwanzig Meter von Ungarn entfernt. Er hat Angst, weiterzumarschieren. «Die Ungarn sollen brutal sein.»

Das Boot von Sheila (18) kenterte in der Ägäis, die griechische Marine rettete sie. Sie fragt ihren Vater, ob sie mit mir reden darf. Er gibt Sheila die Erlaubnis.

Der irakische Automechaniker Hassan (40) flüchtete vor IS-Schergen und lügt mich anfänglich an, er stamme aus Syrien. «Ich log, weil ich Angst hatte», sagt er später. Die meisten Menschen auf der Balkan-Route seien Syrer. «Ich will nicht auffallen.»
Deutschland ist für Englischlehrer Lashkari (26) aus Kabul das Land seiner Sehnsüchte. Und die Schweiz? «Dort ist es zu teuer und zu kalt.» Von den rund fünfzig Personen, mit denen ich rede, will keiner in die Schweiz.

Gebildete Mittelklasse
Viele sind Fachkräfte, reden besser Englisch als mancher Nationalrat. Ingenieure sind unterwegs, ein 26-jähriger Arzt aus Damaskus, ein Programmierer aus Aleppo. Die gebildete Mittelklasse flieht über den Balkan. Es sind Menschen, die gute Jobs hatten – und nun um ihr Leben fürchten.

Der Bürgermeister von Horgos ist ein wuchtiger Mann, sicher 150 Kilogramm schwer, zwei Meter lang. Kein Politiker Europas weiss besser, was auf der Balkanroute passiert als Istvan Bacskulin (59). Die Stadt, die er regiert, liegt in Serbien, direkt an der Grenze zu Ungarn. Flüchtlinge folgen hier der verlassenen Eisenbahnlinie, die sie direkt in die EU führt. Täglich sind es 3500 Menschen. Kein Schlagbaum stoppt sie, der Stacheldraht ist unterbrochen. «Geschieht nicht bald etwas, explodiert meine Stadt», sagt der Bürgermeister. Hungrige würden ernten, was die Gärten von Horgos hergeben: Tomaten, Trauben, Äpfel und Maiskolben.

Was soll geschehen? Was ist seine Lösung? Er hat keine. Bacskulin ist so ratlos wie der Bundesrat, die EU-Kommission und die Leitartikler. «Wüsste ich es, wäre ich Jesus und Allah zugleich.»

Gespenstisch ist die Stille auf den Schienen von Horgos. Lautlos stampfen Menschen nordwärts, die Häupter gesenkt. Endlos zuckelt die Karawane, auch nachts.

Etwas durchbricht die Stille, ein Geräusch, das kaum zu ertragen ist, das jeder Politiker einmal hören sollte: das Wimmern von Kindern, die nicht mehr weiterkönnen, deren Blasen an den Füssen schmerzen, die müde sind vom langen Marsch, deren Eltern keine Kraft mehr haben, sie zu tragen.

Kinder. Tausende Kinder marschieren entlang der Balkan-Route mit. Etwa Fatime (6) und Nahid (3). Sie kamen in Aleppo zur Welt, ihre dunklen Augen leuchten. Sie setzen sich auf dem Geleise neben mich, grinsen über schweizerdeutsche Worte, freuen sich über Fotos meiner Töchter. Es ist ein Moment von tiefer Menschlichkeit.

Davon ist den Mädchen wenig geblieben. Sie riechen nach Urin und Kot. Seit Tagen haben sie sich nicht gewaschen. Zwei Drittel der Menschen auf der Flucht seien krank, sagt eine angehende serbische Ärztin, die in Belgrad Flüchtlinge untersucht.

Schlepper oder Profiteur
Die Flucht betrifft viele, nicht nur die Flüchtlinge. Die Schuhdesig­nerin Aleksandra (31) bringt jeden Tag Wasserflaschen und Kekse zum Grenzbahnhof von Mazedonien. Dafina (24) ist Albanerin und weist seit zwei Monaten im serbischen Grenzdorf Miratovac Flüchtlingen Busse zu. Meist strahlt sie dabei. «Ich helfe, vielleicht brauche ich morgen ja selbst Hilfe.» Die Belgraderin Liliana (59) räumt täglich einen Laster voller Müll weg, hinterlassen von Flüchtlingen. Sie beklagt sich nicht. «Sonst hilft ihnen keiner.»

Die Flucht ist gut fürs Geschäft, längst nicht nur für die Schlepper. Das verschlafene Örtchen Preshevo, wo Serbien die Ankömmlinge registriert, erlebt derzeit einen regelrechten Boom. Bobbi (34) verkauft Wasser, Zigaretten und Seife. Er hat seinen Umsatz verzehnfacht. Aus ganz Serbien schicken Car-Unternehmer ihre Busse nach Preshevo – um sie mit Flüchtlingen zu füllen. Sind das nun Schlepper oder Profiteure? Beim letzten Bahnhof von Mazedonien füllen Bauern ihre Schubkarren mit Wasser und trockenen Broten, verkaufen es zu überhöhten Preisen an hungrige und durstige Syrer, die mit dem Zug von Griechenland kommen. Er sei kein Profiteur, wehrt sich ein Verkäufer. «Wir müssen ja die Sauerei der Flüchtlinge wegräumen.»

Die Preise nicht erhöht hat der Handy-Händler in Preshevo. Der ist für Menschen auf der Flucht zentraler als die Schlepper. Er verkauft SIM-Karten. Ein Gigabyte Daten kostet zwei Euro. Längst ist das Smartphone wichtigster Fluchthelfer. Es findet Wege, vereint Menschen, hilft beim Übersetzen – wenn der Akku Saft hat.

Sonst hilft Bobbi. Für einen Euro lädt er jedes Handy.