Von Peter Hossli
Baltimore brennt. Der 25-jährige Schwarze Freddie Gray starb in Polizeigewahrsam. Gestern wurde er beigesetzt. Autos und Gebäude gingen in Flammen auf. Kurz danach rief der Gouverneur von Maryland den Ausnahmezustand aus. Von einer Kriegszone sprach die Polizei.
Vor ein paar Monaten brannte Ferguson in Missouri. Ein Polizist hatte einen Schwarzen erschossen. Es brannte in New York. Ein Polizist hatte einen Schwarzen erwürgt. Täglich ist von weissen Polizisten zu hören, die mit Gewalt gegen Schwarze losgehen. Von Schwarzen, die sich mit Gewalt wehren. Nicht nur in konservativen Staaten im Süden, sondern im liberalen Norden, an der US-Ostküste wie Baltimore.
Vermächtnis Sklaverei
Es zeigt die Unfähigkeit des weissen Amerika, mit den Schwarzen klar zu kommen. Ein Happy End ist nicht in Sicht. Nach wie vor bleiben in den USA die Rassen strikte getrennt.
Wie ein vereiterter Stachel steckt das Vermächtnis der Sklaverei tief im Inneren von Amerika. Ein Stachel, der kaum zu ziehen ist.
Es ist die amerikanische Ur-Sünde, und mit der befasst sich das Land partout nicht – selbst mit einem Schwarzen im Weissen Haus.
Freiheit, das Fundament des amerikanischen Traums, gehörte nie ins Bewusstsein und somit nicht in die Realität der Schwarzen. Im Gegensatz zum Rest des Meltingpots kamen die Afrikaner als Einzige nicht freiwillig in die Neue Welt. Afrikaner und Weisse verschleppten sie. Straflos vergewaltigten Weisse einst ihre Sklavinnen. Lachte ein Sklave eine weisse Frau an, hing er am Strang.
Würde sich Amerika damit befassen, der Traum wäre längst geplatzt.
George Washington (1732 – 1799), erster Präsident der USA, besass Sklaven. Thomas Jefferson (1743 – 1826), der dritte Präsident, vergewaltige eine Sklavin, zeugte mit ihr mehrere Kinder – und ziert die 2-Dollar-Note.
246 Jahre dauerte in den USA die gesetzlich legitime Unterjochung der Schwarzen. Keine andere Rasse, ethnische oder religiöse Gruppe wurde länger ausgenützt. Die Ausbeuter profitierten enorm – mit der Sklavenarbeit bauten sie die weltweit mächtigste Wirtschaftsmacht auf. Ökonomen bezeichnen den Wert der Gratisarbeit als «unschätzbar».
Keine Reparationen
Das kulante Angebot verhiess einen aussichtsreichen Anfang. «Forty acres and a mule», 16 Hektaren Land und ein gesundes Maultier, versprach die US-Regierung 1865 allen eben befreiten Sklaven. Acker und Gaul würden den einst gewaltsam verschleppten Afrikanern in der Neuen Welt den amerikanischen Traum bescheren.
Der blieb aber genauso aus wie das zugesicherte Startkapital. Schon 1869 widerrief Präsident Andrew Johnson (1808 – 1875) die Geste. Geduldig warten die Schwarzen seither auf angemessene Wiedergutmachung für Sklaverei und Rassentrennung.
Seit 1989 blockiert das US-Repräsentantenhaus eine Studie, mit der Historiker die Auswirkungen der Sklaverei untersuchen könnten. Ökonomen sagen, es sei unmöglich, den Beitrag der Sklaverei an die US-Prosperität zu beziffern. Niemand mag errechnen, wie viele Kinder Sklaventreiber gewaltsam gezeugt haben oder welche finanziellen Nachteile durch offene und versteckte Diskriminierung entstehen.
Nach der Freisetzung der Sklaven bevölkerten europäische Einwanderer das prosperierende New York. Flugs schnappten Deutsche, Italiener und Iren den Schwarzen die Jobs weg. Heute sind es Latinos und Asiaten.
Nach wie vor sind die Folgen spürbar. Keine andere US-Minderheit weist höhere Arbeitslosenquoten auf oder hat mehr Leute im Gefängnis als die Schwarzen. Drogensucht und Armut grassieren. Die Hälfte aller Kinder wächst vaterlos auf. Etwa in Baltimore. Fast zwei Drittel der Bevölkerung sind schwarz. Nirgends in den USA gibt es mehr Heroin- und Cracksüchtige.
Arme und gefangene Schwarze
Heute besitzt ein weisser Haushalt 13 Mal mehr als ein schwarzer. Das durchschnittliche Vermögen einer weissen Famlie beträgt heute 141’900 Dollar, das einer schwarzen 11’000 Dollar. Im Jahr 2001 lag der Unterschied noch bei Faktor 6.
Für eine schwarze Frau in den USA ist es nicht einfach, einen schwarzen Mann zu heiraten. Für 100 schwarze Amerikanerinnen gibt es landesweit nur 83 freie schwarze Männer. Die anderen 17 sind im Gefängnis. Es gibt Städte, etwa in Ferguson, wo 40 von 100 schwarzen Männer inhaftiert sind.
Sklaverei im Norden
Rassismus ist in den USA nicht nur im konservativen Süden sondern genauso im liberalen Norden präsent. Die Geschichte erklärt es. Diana war Sklavin in Manhattan, ihr Kind kam um 1740 als Besitzgut eines weissen Masters zur Welt. Sie nahm das Baby von der Brust und verschwand. Der Kältetod erschien ihr für ihr Kind würdevoller als ein Leben in Unfreiheit.
Was Literatur und Film folkloristisch in den Süden Amerikas verlegen – sei es in «Onkel Toms Hüte» oder «Vom Winde verweht» –, gehörte ebenso zum Alltag im Norden. Während 200 Jahren war New York wichtiger Handelshafen für menschliche Fracht. New Yorker selbst hielten viele Sklaven. Zeitweise besassen 42 Prozent der Haushalte Leibeigene. Ein Fünftel der Bewohner war Mitte des 18. Jahrhunderts versklavt. Unentgeltlich legten unfreie Schwarze ab 1620 das Fundament der Wirtschaftsmetropole. Zuerst unter holländischer, später englischer Herrschaft bauten sie den Broadway und die City Hall, zogen die Wand an der Wall Street hoch, entluden Schiffe, kochten, putzten, hegten die Kinder ihrer Gebieter.
Statistiken zeigen, wie lukrativ der Handel mit Afrikanern war. Mit einem Preisaufschlag von sagenhaften 969 Prozent wurden Sklaven etwa 1675 in New York verkauft. Tausende von Zeitungsanzeigen, die die «Ware» anpriesen oder entlaufene Sklaven ausschrieben, bescherten Verlegern die Profite, um Medienimperien aufzubauen.
Enttäuschung Obama
Nie hat sich das offizielle Amerika für die Sklaverei entschuldigt. Öffentliche Debatten darüber finden höchstens alle zwei Jahrzehnte statt. Brechen sie einmal aus, sind sie heftig, aber selten ergiebig. Fortschritt bleibt aus.
Hoffnungen entfachte Barack Obama (53). Als erster Schwarzer wählten ihn die Amerikaner zu ihrem Präsidenten. Zum Regenten eines Landes, das Freiheit wie nichts anderes preist – dessen Reichtum aber lange auf der Unfreiheit afrikanischer Sklaven beruhte.
Obama aber ging der Debatte aus dem Weg. Er hielt eine einzige Rede in seinem ersten Wahlkampf. Dann aber wollte er nicht als Präsident in die Geschichte eingehen, der etwas für die Schwarzen gemacht hat, sondern der ganz Amerika weiter brachte. Beides gelang ihm nicht sonderlich.
Seit Jahrzehnten gibt es in Washington Gedenkstätten für den Vietnamkrieg und den Holocaust. Das Memorial für 9/11 in New York ist seit letztem Jahr offen. Und für die Sklaverei? Soll 2016 das National Museum of African American History and Culture endlich aufgehen – nach jahrelangem Ringen.
Das Schwarze überwinden
Gegen Westen, dem Sonnenuntergang entgegen, können weisse Amerikaner erst erhobenen Hauptes reiten, wenn sie das Schwarze überwunden haben. «Um frei zu sein», erklärt Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison (84) brillant, «braucht jeder weisse Held die kathartische Begegnung mit einem Schwarzen.»
Das ist bisher ausgeblieben. Amerika bleibt unfrei.