Von Peter Hossli
Am Donnerstag reisen 200 Menschen nach Seyne-les-Alpes, Frankreich. Es sind Angehörige der Opfer von Flug 4U9525. Psychologen umsorgen sie, Seelsorger, Ärzte. Die Unfallstelle werden sie nicht besichtigen.
Das aber wäre wichtig, so Hans Klaus (48). «Ohne physischen Bezug ist der Abschied kaum möglich.» Denn: «Ein örtlicher Bezug erleichtert es, einen unerwarteten Tod zu akzeptieren.» Klaus weiss, wovon er spricht. Nach dem Crash von Swissair-Flug 111 vor der kanadischen Küste im Herbst 1998 arbeitete er mit dem Care-Team und leitete die Kommunikation in Nordamerika.
Wenn Germanwings nun die Tragödie in den französischen Alpen verarbeitet, folgt sie einem Drehbuch, das Schweizer entwickelt haben. «Noch heute orientieren sich Airlines an der Swissair», sagt Klaus. «Erstmals betrachtete in Halifax eine Airline einen Absturz nicht mehr nur als technisches Ereignis.» Drei Bereiche waren wichtig: Wie bisher wollte die Swissair die Ursachen des Unglücks klären; neu war der Care-Gedanke für die Angehörigen; drittens kam eine offene Kommunikation hinzu.
Klaus sitzt in seinem Zürcher Büro und fröstelt: «Da kriege ich noch heute Gänsehaut», sagt der stattliche Mann und erzählt vom «schwierigsten Moment in Halifax». Swissair-Chef Jeffrey Katz stand vor Angehörigen der 229 Opfer – und schilderte, was mit der MD-11 geschehen war. «Gleichzeitig bat er, DNA-Proben abzugeben, um Leichenteile zu identifizieren», sagt Klaus. Viele weinten, einige sackten zu Boden. Ihnen war bewusst geworden, was derzeit vielen in Seyne-les-Alpes bewusst wird: Sie werden ihre Liebsten nie mehr sehen.
Am 3. September 1998 lenkte Klaus seinen weissen VW-Käfer zum Terminal 1 des Flughafens Kloten. Er parkierte auf dem gelb markierten Parkfeld der Polizei. Ohne Zahnbürste flog er nach Kanada, mit Ärzten und CEO Katz.
Schon Tage später flog die Swissair Mütter und Väter, Söhne und Töchter der Opfer nach Kanada – um ihnen die Möglichkeit zu geben, persönlich Abschied zu nehmen. Sie konnten eine Hand ins eiskalte Meer halten, mit Booten zur Absturzstelle gleiten, Blumen ins Wasser werfen: «Das waren wichtige Rituale, um der Verstorbenen zu gedenken», sagt Klaus. Ähnliche Rituale vollziehen die Trauernden derzeit in Frankreich.
SR 111 war von New York nach Genf unterwegs. Menschen aus 20 Ländern starben. Es gab Personen, die sofort anreisten, andere warteten Wochen. Die Swissair betreute sie alle. «Ihre Bedürfnisse waren einfach», sagt Klaus. «Sie brauchten ein Hotelzimmer, etwas zu essen, Busse oder Autos.» Für alle Sprachen organisierte die Swissair Übersetzer vor Ort, für alle Religionen Geistliche. Germanwings lässt derzeit in Deutsch, Spanisch, Französisch übersetzen.
Damals wie heute konnten nur Körperteile geborgen werden. Ohne Identifizierung darf kein Totenschein ausgestellt werden. Angehörige geben daher Blut- oder Haarproben. Und nehmen Leichenteile mit, um wenigstens die beerdigen zu können.
Am ersten Jahrestag flog Swissair die Angehörigen erneut nach Halifax – zum Trauern. Lufthansa plant bereits mehrere Gottesdienste, etwa am 17. April im Kölner Dom.
In der Kommunikation ist heute Standard, was die Swissair entwickelte. «Eine offene und schnelle Kommunikation», sagt Klaus. Auf der ersten Maschine von Kloten nach Halifax flogen 60 Journalisten mit. «Weil wir nicht wollten, dass sich Schweizer Medien nur über CNN informierten», so Klaus.
«Die Medien müssen ein solches Unglück voll abdecken können», betont Klaus. «Da gehört das menschliche Schicksal dazu.» Etwa die Angehörigen. «Ihre Würde muss aber respektiert werden.» An gewisse Orte durften die Journalisten jedoch nicht hin. Tabu waren in Halifax etwa die Hotels der Angehörigen.
Bewusst bemühte sich die Swissair, den Reportern technische Aspekte zu erläutern, zu sagen, wie eine Blackbox funktioniert, wie Piloten mit Lotsen sprechen. «Erstmals erklärte eine Airline ein Unglück», so Klaus.
Lufthansa folgt diesem Vorbild: «Wir versuchen, möglichst alle Informationen sofort zu kommunizieren», sagt eine Airline-Sprecherin.
Nach viereinhalb Wochen in Halifax kehrte Klaus zurück nach Zürich. Sein Käfer stand noch immer auf dem gelb markierten Polizei-Parkplatz. Er hatte eine Visitenkarte an die Scheibe geheftet mit dem Vermerk «Halifax». Warum erhielt er keine Busse? «Alle Menschen am Flughafen waren damals solidarisch und halfen, diese Katastrophe zu bewältigen.»