Wir stumpfen ab

Fast täglich explodieren Bomben, sterben Kinder, töten Terroristen. Warum wir Distanz halten. Eine Analyse.

Von Peter Hossli

Taliban dringen in eine pa­kis­tanische Schule ein. Sie massakrieren 132 Kinder.

Zwei Brüder richten in Paris einen Polizisten hin, erschiessen elf Mitarbeiter der Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo». Einer ihrer Komplizen nimmt mehrere Geiseln in einem jüdischen Geschäft und tötet vier.

Schergen von Boko Haram eröffnen im Norden Nigerias das Feuer. Sie töten 2000 Dorfbewohner. Das ist eine Schätzung.

Eine Bombe in Sanaa in Jemen explodiert. 38 Polizisten sterben.

Am Mittwoch erschiessen Terroristen in Tunis 21 Touristen.

Vorgestern reissen fünf Selbstmordattentäter 137 Gläubige in den Tod, erneut in Sanaa.

Am gleichen Tage explodieren zwei Bomben im Nordosten Sy­riens und zerfetzen 33 Kurden. Sie feiern gerade ihr Neujahr.

Es reicht. Das ist kaum auszuhalten. Dabei ist das nur ein kleiner Auszug der Liste aller Terroranschläge der letzten zwölf Wochen. Bei 55 Attentaten starben 2015 rund 2700 Menschen. Niemand kennt die genaue Zahl. Hinter den Zahlen aber stehen leibhaft Mütter und Väter, Töchter, Söhne, Witwen und Waisen.

Und doch hören wir weg, wenn erneut eine Bombe hochgeht, ein Boot mit Somaliern vor Sizilien kentert. Der Aufschrei wird leiser.

Wir stumpfen ab.

Allenfalls zünden wir eine Kerze an. Tippen «Je suis Charlie» ins Internet. Ersetzen unser Twitter-Foto zeitweilig mit einer Mohammed-Karikatur. Lesen in der Zeitung das Schicksal eines einzelnen syrischen Flüchtlings. Versuchen wir aber zu erfassen, dass gerade elf Millionen Syrer auf der Flucht sind, legen wir die Zeitung weg. Elf Millionen? Dazu 220000 tote Syrer? Das überfordert.

Also lassen wir es nicht an uns heran. Mit Statistiken reden wir uns ein, die Welt sei friedlicher geworden. Buchungen nach Tunesien brechen nicht ein. Paris bleibt ein beliebtes Reiseziel.

Gezielt schaffen wir Distanz zum Terror. Indem wir den Islam pauschal verdammen, obwohl wir ihn nicht wirklich verstehen.
Indem wir uns hinter Machtpolitik verbergen, auf die wir ohnehin keinen Einfluss haben.

Indem wir Obama, Putin und China beschuldigen. Nichts ändere sich, solange der Nahost-Konflikt anhalte, der Streit zwischen Sunniten und Schiiten, Saudis und Iranern.

Wir schaffen Distanz, indem wir uns einreden, aus der eigenen blutigen Geschichte gelernt zu haben. Sagen platt, der Islam müsse sich halt reformieren, als ob jemand wüsste, wie das ginge.

Reden uns sogar ein, die Opfer und Täter weit weg hätten ein anderes Verhältnis zum Tod, hätten weniger menschliche Bedürfnisse als wir. Deshalb regen uns misshandelte Berner Büsi mehr auf als enthauptete Kurden.

zeynabUnlängst traf ich im Irak Zeynab. Sie ist zehn, wie meine Tochter. Sie wohnt im Zelt, ihre Familie floh vor Terroristen. Zahnärztin will sie werden. Zurzeit vermisst sie ihre Schulfreundinnen. Meine Tochter ist betrübt, wenn ihre Freundin nicht sofort auf eines ihrer SMS antwortet. Zeynab weiss nicht, ob ihre noch lebt.

Distanz bestimmt unsere Mitgefühl, die geografische und die kulturelle. «Keine Schweizer unter den Opfern in Tunis», titelte «20 Minuten». Was viele empörte. Dabei ist es einfach ehrlich. Keine Schweizer? Gut! Damit müssen wir uns nicht befassen.

Um fünf tote Cartoonisten trauern in Paris Dutzende Staatschefs. Keiner reist wegen 2000 toten Nigerianern nach Lagos. Ein Grüsel in Goldau SZ regt mehr auf als ein Terrorist in Tunis.

Einst fragte ich einen französischen Kriegsfotografen, warum er in Krisengebiete ziehe. «Um ruhig zu werden», erklärte er. Fallen Bomben, gehe es ums ­Lebendige. Da besinnt sich der Mensch aufs Wesentliche. «Ich bin friedlicher, wenn das äussere Chaos grösser ist als das innere», sagt der Fotograf. «Dann zählt nur noch das wirklich Wichtige.»

Uns plagen keine existenziellen Sorgen. Und doch fürchten wir um unsere Existenz. Deshalb verdrängen wir, lassen wir es zu, dass wir abstumpfen. Wären wir nicht stumpf, müssten wir ja etwas tun, aus Barmherzigkeit unsere Grenzen für Flüchtlinge öffnen, mehr Geld spenden. Wir tun es nicht, weil wir Angst haben, dass die Fremden uns um unsere Behaglichkeit bringen.

Wir können die Welt nicht retten. Das macht hilflos. Es bleibt als Selbstschutz das Verdrängen. Denn wer das Leid der anderen zu seinem eigenen macht, läuft Gefahr, daran zu zerbrechen.

Foto von Zeynab: Pascal Mora