Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)
Zwei Frauen kauern auf dem Boden des geheizten Containers. Sie füllen Weinblätter mit Gemüse, bereiten die orientalische Vorspeise Dolma zu. An der Wand hängt ein vergilbtes Foto von Papst Franziskus. Auf zwei Betten sitzen neun Menschen. Es sind arabische Katholiken. Sie alle entkamen dem Tod nur knapp.
Achtzig Kilometer flohen sie, von Qaraqosh nach Erbil. Die ISIS-Terrorbande hatte letzten August die grösste christliche Stadt im Irak angegriffen. «Die Granaten schlugen nach der Morgenmesse in unserer Kirche ein», sagt Bashar Kthya (41), der Bischof von Qaraqosh. Trauer liegt in den Augen des ruhigen Mannes. Er hockt auf einem Plastikstuhl, das Kollar ist schmutzig. «Sie ermordeten die Männer, klauten unsere Frauen.» Laut Rotem Halbmond entführte die ISIS 500 Christinnen aus Qaraqosh – und verkaufte sie als Sexsklavinnen. «Wer an Gott glaubt, tut das nicht», sagt der Bischof. Im Norden Iraks lebten Christen und Muslime seit 100 Jahren friedlich zusammen. «Wir lachten zusammen an Hochzeiten, weinten an Beerdigungen.»
Er leitet das Auffanglager am Stadtrand von Erbil, eingerichtet in einem Sportcenter. 836 Menschen bewohnen die Container, gespendet von einer katholischen Organisation aus Polen. Auf den Dächern stehen Satellitenschüsseln. Im trockenen Pool sammelt sich Abfall. In der Turnhalle büffeln über 300 Kinder Arabisch, Zahlen und Englisch. Schüler und Lehrer sind Iraker – auf der Flucht im eigenen Land. Insgesamt sind 2,4 Millionen Binnenflüchtlinge unterwegs, vertrieben von der ISIS. «Es fehlt an Büchern, Bänken und Tischen», sagt Schulleiter Saba Farah (53). Und doch ruft er jeden Tag zum Unterricht. «Diesen Kindern gehört die Zukunft Iraks, wir müssen sie ausbilden.»
Ein Gewitter zieht über Erbil. Rhythmisch prasseln schwere Tropfen auf das Containerdach von Nameer (32), einem schüchternen Mann mit sanften Gesichtszügen. Tochter Amani (4) und Sohn Yousef sitzen auf seinen Beinen. Sie haben eine Krippe aufgestellt, mit Maria und Josef, Baby Jesus und den Heiligen Drei Königen.
In Qaraqosh führte Nameer ein Restaurant, trug lokale Spezialitäten auf. «Dann kamen die Terroristen und zerstörten alles», sagt er. Seine Frau mag nicht mit den Reportern reden, zu traumatisiert sei sie nach der Flucht. Um 3 Uhr in der Früh seien erste Schüsse gefallen, erzählt Nameer. «Die Kinder schreckten auf, wir packten, was wir tragen konnten und flohen.» Hier in Erbil langweilt sich Nameer. Er kann nicht arbeiten, will zurück. «Hier bin ich für meine Familie nicht mehr wichtig.»
Er sehnt sich nach den amerikanischen Soldaten, die 2003 einmarschierten und Diktator Saddam Hussein (1937–2006) stürzten. «Nur die USA können ISIS stoppen. Wäre Amerika geblieben, gebe es die Terroristen nicht.»
Optimismus verbreitet Bischof Kthya. «Sind die Banditen einmal weg, leben wir wieder friedlich miteinander, friedlicher denn je.»
Erbil, der am längsten besiedelte Ort
Erbil liegt im Norden Iraks. Es ist die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan und zählt rund 1,5 Millionen Menschen. Von oben sieht die Stadt kreisrund aus wie ein Pfannkuchen, in deren Mitte eine befestigte Altstadt liegt. Diese Zitadelle soll seit über 8000 Jahren bewohnt sein – und gilt als der am längsten durchgängig besiedelte Ort der Welt. Seit 2014 ist die Zitadelle ein Weltkulturerbe der Unesco. In Erbil werden die Peschmerga-Kämpfer und ihr Widerstand gegen die Terrorbande Daesh koordiniert.