Von Peter Hossli (Text) und Pascal Mora (Fotos)
Fliegen umschwirren ihr dichtes dunkles Haar. Feucht und kalt ist der Beton, auf dem sie kauert. Sie klaubt eine zerrissene Bluse aus der Plastiktüte. «Schauen Sie», schluchzt Xoxe, «das Loch ist ganz klein, sie hätte nicht sterben müssen.» Wie sechzig sieht die Vierzigjährige aus. Sie erzählt. «Um zwei Uhr früh griffen sie uns an.» Granaten trafen ihr Haus, eine Gewehrkugel ihre Tochter. Xoxe hält einen vergilbten Ausweis in den Händen. Zu erkennen ist das Gesicht einer schönen jungen Frau, das Haar schwarz, die Augen neugierig. «Bahran heisst sie», sagt ihre Mutter. «Sie fiel einfach zu Boden.»
Sie fuhr sie ins Spital, wo die Schergen warteten – und die Ärzte vertrieben. Bahran († 20) verblutete in den Armen ihrer Mutter. «Um acht Uhr war sie tot», sagt Xoxe. «Ich war ganz allein mit ihr.» Tränen kullern über die rechte Wange. «Alle Ärzte waren geflohen.»
Xoxe gehört den Jesiden an, einer religiösen Gruppe im Norden Iraks. Ihr Glaube geht auf die Zeit vor Mohammed (ca. 570–632) zurück. Schlächter der Terrorbande Islamischer Staat (IS) verachten sie als Ungläubige. Letzten August attackierten sie die jesidische Stadt Sindschar, ermordeten, vergewaltigten und versklavten Tausende.
Wer konnte, floh. Xoxe beerdigte zuerst ihre Tochter. Tagelang irrte sie danach durchs Gebirge. Sie ass Gras. Sie sah, wie fliehende Mädchen sich von Bergen stürzten, damit die Barbaren sie nicht lebend fassten. Sie beobachtete, wie Alte ertranken beim verzweifelten Versuch, einen Fluss zu durchwaten.
Heute haust Xoxe in Erbil, in der kurdischen Hauptstadt im Nordirak. Ihr Mann und sieben ihrer Kinder sind hier. Auf einer Müllhalde haben sie mit zehn jesidischen
Familien ein Lager errichtet. Wellblech schützt vor Regen. An Leinen trocknet Wäsche. Zehn Menschen teilen sich einen Raum. Toiletten im Feld ziehen Fliegen an. Es riecht eisern, nach den Chemikalien, die unweit der Hütten vermodern.
Xoxe serviert süssen Tee im Glas. «Das sind Tiere», beschimpft sie die Mörder ihrer Tochter. «Wer das tut, hat Gott nicht auf seiner Seite.» Es sei «eine Beleidigung» von «Islamischer Staat» zu sprechen. «Das sind keine Muslime, wer an Gott glaubt, tötet keine Kinder.» Wie viele im Irak nennt sie die Terrortruppe «Daesh», ein arabisches Schimpfwort. Der Begriff IS stütze nur deren Ziel, ein Kalifat zu errichten.
Kann sie jemals nach Sindschar zurück? «Die Stadt ist zerstört, es wimmelt von Verrätern.» Ihr Nachbar, mit dem sie als Kind spielte, sei jetzt bei Daesh. «Ich kann ihm nie mehr in die Augen schauen.» Und doch will sie zurück, ans Grab ihrer Tochter. Was für ein Mädchen war Bahran? «Sie kochte sehr gut», sagt sie. «Und sie war stets hilfsbereit.»
In der Hütte nebenan sitzen Qassam (47) und Kalef (66) auf einem Steinboden. Der Fernseher läuft ohne Ton. Sie flohen am 10. August 2014. Ihre Karawane aus 60 Autos fuhr von Sindschar über die syrische Grenze. Fünf Tage harrten sie aus und kehrten in den Irak zurück.
Wo Daesh sie erneut angriff. Nur acht Autos erreichten Erbil. «Was mit den Jesiden in den anderen Wagen passierte, weiss ich nicht», sagt Kalef. «Vermutlich sind sie alle tot.» Qassam zückt sein Handy, spielt ein Video ab. Zu sehen sind grölende Dschihadisten. An Haaren halten sie abgetrennte Köpfe von Jesiden, als seien es Trophäen.
Kaum zu verstehen, warum Menschen so etwas tun, die in der gleichen Welt leben wie wir.
Irak erlebe eine «dramatische humanitäre Katastrophe», sagt Emmanuel Gignac vom UNHCR, der Flüchtlings-Behörde der Uno. «Die Schuld trägt Daesh.» Er zählt 2,2 Millionen Binnenflüchtlinge in Irak – Iraker, die im eigenen Land auf der Flucht sind. Mehr als die Hälfte davon hält sich in Kurdistan auf, in der sichersten Region im Land. Rasant steigt ihre Zahl. Heute stehen hier 23 Zeltlager der Uno. Anfang 2014 waren es erst zwei. 20 weitere sind geplant. Eine halbe Million Menschen lebt in halbfertigen Häusern, in verlassenen Einkaufszentren, im Müll wie die Jesiden, in Containern oder als Gäste bei kurdischen Familien.
Ein Ende sei nicht in Sicht, sagt der Kanadier Gignac vom UNHCR: «Nein, optimistisch bin ich nicht.» Irak sei krank, Daesh das wuchernde Geschwür. Zerrüttet das Land nach 25 Jahren brutaler Diktatur unter Saddam Hussein (1937–2003). Zerstritten, zwölf Jahre nach der US-Invasion. «Es ist wie Krebs», so Gignac. «Je kranker der Patient, desto schneller wächst der Tumor.»
Eine halbe Stunde nördlich von Erbil. Ein Schotterweg zweigt von der Hauptstrasse ab, führt hinauf zu einem sanften Hügel zum Camp Baharka. Bauarbeiter errichten aus Ziegelsteinen Waschräume und ziehen Zelte hoch. Bulldozer glätten Wege. Bald liegt hier Teer.
Das Zelt von Zeynab (10) steht bereits. Es ist hell und hoch, ein Teppich aus Plastik bedeckt den Boden, dünne Matratzen liegen aufeinander, am Giebel des Zelts hängt eine Solarzelle. Sie liefert Strom für Lampen und Ladegeräte der Handys. «Donated by Switzerland» steht auf dem Schild beim Zelteingang, daneben prangt ein weisses Kreuz auf rotem Grund.
Lastwagen bringen Hilfsgüter aus der Schweiz nach Kurdistan 1300 wintersichere Zelte hat die Humanitäre Hilfe der Schweiz (HH) nach Kurdistan geliefert. Jedes bietet sechs Personen Platz. Überdies schickte die Schweiz Kochsets, Öfen, Decken, Schlafmatten sowie medizinisches Material. Den Grossteil der 175 Tonnen Hilfsgüter karrten Lastwagen von Wabern bei Bern nach Erbil.
Die Schweiz hat Spezialisten des Korps für Humanitäre Hilfe (SKH) entsandt. Zudem finanziert sie fünf Organisationen, die sich um vertriebene Menschen im Irak kümmern. Seit Anfang 2014 gab der Bund insgesamt 17,3 Millionen Franken für die dortige Hilfe aus.
Ihr gefalle das Zelt, sagt Zeynab. «Solange uns Daesh hier nicht findet, ist mir alles recht.» Sie ist das älteste von fünf Kindern. Den Gästen bringt sie Cola, achtet darauf, dass ihre kleine Schwester das iPad des Reporters nicht berührt, rückt geschwind die Matten zurecht. Selbst auf der Flucht ist Zeynab eine typische grosse Schwester: Sie fühlt sich verantwortlich. Nach dem Marsch von Daesh auf Mosul im Juni 2014 flüchtete sie. Zeynab sah marodierende maskierte Männer. Vor ihrem Haus lagen Leichen auf der Strasse. Sie hörte Schüsse. Die Mutter packte das, was sie tragen konnte. Tagelang marschierten sie in sengender Hitze.
Zurück liess Zeynab, was Fünftklässlerinnen überall am wichtigsten ist: beste Freundinnen. «Sie heissen Zeyna und Hadischa, ich weiss nicht, wo sie sind.» Sie unterdrückt ihre Tränen. Rechnen sei ihr Lieblingsfach. Da das Klassenzimmer im Lager nicht bereit ist, kann sie derzeit nicht zur Schule. Sie liest Bücher, die sie mitnahm. «Ich will Zahnärztin werden.» Ans Heiraten denke sie noch lange nicht.
Die Hoffnungen ruhen auf ausländischen Truppen
Eine hagere Frau setzt sich ins Zelt. Mit sieben Kindern floh Sabah (42) aus Mosul nach Erbil. Sie sagt, was im Baharka Camp sich viele wünschen: «Wir müssen Mosul zurückerobern.» Allein könnten das weder Iraker noch Kurden. «Es braucht Amerikaner.» Bomben und Füsiliere sollten die USA bringen.
Sie traut es Amerika nicht zu. «Sagen Sie Präsident Barack Obama, er sei ein Schwächling», so Sabah. «Bush war stark, mit ihm gäbe es keine Daesh.» Das Leid ist gross, jede Hilfe willkommen. «Von mir aus kann die israelische Armee eingreifen», sagt Sabah. Also sogar die Soldaten vom Erzfeind. Sie ist Sunnitin, wie die Terroristen von Daesh. «Aber ich mag alle: Juden, Muslime, Christen, Jesiden – solange es anständige Menschen sind.»
Irak ist reich. Gläserne Türme ragen in Erbil zum Himmel. Neue Toyotas befahren breite Strassen. Nur vier Länder haben mehr Erdöl unter dem Boden. Euphrat und Tigris bewässern Felder. Und doch kommt das Zweistromland nicht zur Ruhe. Ein Streit zwischen der zentralen Regierung in Bagdad und den Kurden hilft den Terroristen. Es geht um Öl, wie so oft. 17 Prozent der Einnahmen sollte Erbil erhalten. Doch Bagdad schickt den Kurden derzeit kein Geld. Kurdische Kämpfer an der Front gegen Daesh – die legendären Peschmerga – warten auf Sold. Und Beamte, die Flüchtlinge umsorgen, auf Lohn.
Im Schneidersitz hockt Wasmiya (35) im hellen Schweizer Zelt. Wie versteinert wirken ihre grossen
Augen, ihr sanftes Gesicht. Sie zieht ihre Kinder an sich, drei Söhne, eine Tochter. Sie flüstert, aus Angst, die Terroristen könnten sie hören. «Er war immer gut zu mir», sagt sie und zeigt ein Bild von Hassan, ihrem Mann. «Wir liebten uns sehr.»
Hassan war Polizist. In Mosul bekämpfte er Daesh, bis eine Bombe sein Auto zerfetzte. Er sass am Steuer, war sofort tot. Sie floh mit den Kindern. Zeit, die Witwenrente zu beantragen, blieb nicht. «Niemand half mir, alle rannten weg.»
Ohne Lohn ihres Mannes hat sie nichts. Sie zeigt den Hautausschlag ihres Sohnes, eine Tochter hat
einen Herzfehler. «Sie braucht Pillen, die ich mir nicht leisten kann.» Angst und Albträume plagen die Kinder. «Sehen sie am Fernsehen Soldaten, weinen sie.»
Und sie? «Ich habe fast den Verstand verloren», sagt Wasmiya. Sie dreht den Kopf ab. Wo schöpft sie Kraft? Eine Frage, die nur ein Mann stellen kann. «Ich bin eine Mutter», sagte sie. «Meine Kinder haben sonst niemanden, es ist meine Pflicht, für sie stark zu sein.»
Als «Verräter des Irak» rügt sie Daesh, eines Landes, das seit der US-Invasion 2003 zu den labilsten der Welt zählt. «Es war besser unter Saddam, und es war besser, als die Amerikaner noch hier waren», sagt Wasmiya. «Wir hatten nicht mehr Geld, aber es war sicherer.»
Baby Silver kommt auf der Flucht zur Welt
Am Rande des Camps jagen vierzig Buben einem verbeulten Ball hinterher. Der jüngste ist sieben, der älteste 16. Sie tragen abgewetzte Leibchen von Real und Barcelona, von Bayern und Chelsea, verehren die gleichen Stars wie Buben in Baden und Brugg, Cham und Chur. Jeden Tag gibt es ein Turnier. Warum kicken sie hier und nicht in Mosul, wo sie herkommen? «Weil es hier sicher ist und weil uns niemand tötet», sagt ein Bub und spielt einen Pass.
Zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt von Erbil nach Sulaimaniyya nahe der Grenze zu Iran. Satt und grün sind die Felder Anfang März. Im Mai verwandelt sie die Hitze in braune Steppe. Schafe grasen. Bäume blühen. Östlich der Stadt liegt in einer Talsenke das Camp Arbat.
Es regnet, die Schule ist aus. Hunderte Kinder laufen im Schlamm heim, zurück in Häuser aus Stein. Es sind syrische Flüchtlinge. Im Sektor G leben jene, die Anfang Jahr während der blutigen Schlacht um Kobane geflohen sind.
Wochenlang war Jihan (20) unterwegs. Die Lehrerin unterrichtete in Kobane Arabisch. Ihr Mann verkaufte Schmuck. «Wir bewohnten ein schönes Haus.» Jetzt teilt sie einen Raum mit acht anderen. Vor der Türe reinigt sie Fische. Neben ihr spielt Darwin (2). Weil sie die englische Kultur so bewundert, nannte sie ihren Sohn nach dem Naturforscher. Hochschwanger war Jihan, als Daesh-Terroristen ihre Stadt mit Mörsern beschossen. Kaum hatte sie sich im Camp Arbat eingerichtet, brachte Jihan Silver zur Welt.
Heute ist ihre Tochter zwei Monate alt, strampelt auf der Matratze. Neugierig erkunden ihre Augen die Welt. «Würden die Terroristen Silver sehen, müssten sie die Waffen doch niederlegen», sagt Jihan. «Unsere Kinder haben eine bessere Welt verdient.»
Das bestreitet Blend Noori (53) nicht. Der Iraker leitet das Lager, ist pessimistisch. «Dieser Konflikt endet nie», sagt er und öffnet einen Schirm. «Vielleicht, wenn das Öl unter unserem Boden versiegt.»
Krise im Irak Noch immer eine Folge der Angriffe von 9/11
Am 11. September 2001 griffen islamistische Terroristen mit vier Flugzeugen die USA an: 9/11. Sie töteten 3000 Menschen. Der damalige US-Präsident George W. Bush (68) nutzte die Attacke, um im März 2003 im Irak einzumarschieren und Diktator Saddam Hussein zu stürzen. Die Amerikaner inhaftierten Offiziere der irakischen Armee im Camp Bucca im Süden. Diese trafen auf den Islamisten Abu Bakr al-Baghdadi (43). Gemeinsam rekrutierten sie im Gefängnis Kämpfer und entwickelten die Vision eines islamischen Staats. Heute kämpfen sie im syrischen Bürgerkrieg und besetzen weite Gebiete im Westen Iraks. Anfang Juni eroberten sie Mosul, mit 2,9 Mio. Einwohnern die zweitgrösste irakische Stadt. Wegen des Terrors sind im Irak 2,4 Mio. Menschen auf der Flucht. Irakische Truppen schlagen zurück. Derzeit tobt eine wüste Schlacht um Tikrit. Im April soll Mosul befreit werden. Noch mehr Menschen flüchten in eine unsichere Zukunft.