Von Peter Hossli
Beruhigend streicheln die Wellen den hellen Sand. Entlang des libyschen Strandes marschieren maskierte Männer in modisch schwarzen Uniformen. Jeder treibt einen Gefangenen im orangen Überkleid vor sich her. Kniend beugen die Häftlinge die Hälse zum Boden. Die Kamera erfasst Furcht in ihren Gesichtern. Die Henker enthaupten sie mit Dolchen, legen hernach Köpfe auf leblose Leiber.
Blutrot färbt sich das Meer.
So endet das unerträgliche neuste Schockvideo der Terrorbande Islamischer Staat (IS). Es zeigt – kunstvoll gefilmt, flüssig geschnitten – wie IS-Schergen an der libyschen Küste 21 Kopten ermorden.
Es folgt auf ein noch perfekteres, Anfang Februar verbreitetes Video über die Verbrennung eines jordanischen Piloten. Leutnant Moaz al-Kasasbeh (1988–2015) steht im Käfig. IS-Peiniger in Tarnfarben beäugen ihn. Eine entfesselte Kran-Kamera filmt, wie einer mit der Fackel ein Feuer legt. Wie Flammen zum Piloten züngeln – und den offenbar mit Benzin getränkten Menschen regelrecht verschlucken.
Solch mittelalterliche Morde tragen die Terroristen mit modernster Technik in die Welt. Sie nutzen Errungenschaften, die sie verachten: wie das freie Internet. Mit Bits und Bytes kämpfen sie für die Scharia.
Wie bei Hits aus Hollywood ist ihre Symbolik einfach und klar. Am Mittelmeer filmen sie, um die Nähe zu Europa zu zeigen. Athen und Paris, Berlin und Bern? Nur eine Bootsfahrt entfernt! «Wir erobern Rom», proklamiert der Mann mit der Maske. Auf dem Meeresgrund liegt zudem Osama Bin Laden (1957–2011). US-Matrosen bestatteten den Terrorfürsten auf hoher See.
Die orangen Overalls gemahnen an gefangene Gotteskrieger auf dem amerikanischen Stützpunkt in Guantánamo Bay auf Kuba.
Der Käfig erinnert an das irakische Gefängnis Abu Ghraib, wo US-Soldaten Muslime folterten.
Die kärgliche Wüste in vielen Enthauptungsvideos steht für den Boden, den die IS-Anführer so sehr begehren: Land im Nahen Osten, um ein Kalifat zu errichten.
Die Henker sind grosse, vor Kraft strotzende Kerle. Mit ihren Masken verhöhnen sie Richter wie Ankläger: «Vor Gericht könnt ihr niemals beweisen, wer wir sind.»
Rasant verbreiten sich die Videos übers Internet. Millionen sehen sie auf Telefonen und Tablets, verlinken über Twitter und Facebook.
Das verbreitet Furcht in Europa und Amerika. Und es lockt Sunniten in den Heiligen Krieg. «Diese Videos sind eine weltweite Einladung», schrieb «New York Times»-Kritiker David Carr (1956–2015). «Die Botschaft: Kommt für den Dschihad, bleibt für das Morden.»
Videos von Enthauptungen haben schon Tausende in den Irak und nach Syrien geködert. Sunnitische Henker, die über unterwürfigen Amerikanern thronen, blenden Kids in Pariser und Berliner Vorstädten. Sie erkennen eine Umkehr der Macht. Im inszenierten Horror ist der vermeintlich Schwache nun der Starke.
Auf kleinerer Bühne rufen die IS-Videos die gleiche Kunde aus wie im September 2001 die Bilder der brennenden Hochhäuser in New York: «Alles hat sich verändert, niemand ist sicher und der Westen ist impotent gegen die echten Gläubigen», so Carr.
Die bestialischen Werke lösen auch in der islamischen Welt Entsetzen aus. Was den IS jedoch nicht stört. Es geht in ihrer Propaganda keineswegs darum, die Herzen einer Mehrheit zu gewinnen. Sondern um eine ersehnte perverse Weltordnung einzubläuen.
Jedes Video muss schrecklicher sein als das vorherige. Und besser inszeniert. Die filmische Qualität ist atemberaubend, als stünde eine Werbeagentur dahinter. Drohnen fangen Bilder ein. Überblendungen, satte Farben und übereinandergelegte Tonspuren überhöhen die Apokalypse. Kostüme sitzen. Henker stehen der Grösse nach Spalier. Selbst Autos sind ästhetisch aufgereiht. Opfer tragen Mikrofone, lesen von Telepromptern ab. Wohl unter Drogen lassen sie sich wehrlos peinigen.
Manches entnimmt der IS totalitären Regimes. Deren Hang zur Ästhetik, dunkle Uniformen, Reihen und Kolonnen. Nazi-Propaganda-Minister Joseph Goebbels (1897–1945) setzte auf die damals modernsten Medien: Radio, Kino, das Fernsehen. Aus der Wüste erreichen IS-Werber ihre Rekruten heute über die Kurznachrichtendienste WhatsApp und Kik. Beim Marsch auf Mosul setzten sie täglich 40000 Tweets ab, um die Schlachten live zu übertragen – auf Arabisch, Französisch, Englisch und Spanisch. Löscht Twitter eines ihrer Konten, ist in Kürze ein neues eingerichtet.
Bisher galt Bin Laden als wirkungsvollster arabischer Propagandist. Sei Coup war 9/11. Der Anblick der zerstörten New Yorker Skyline versetzte die Welt in Angst und Schrecken. Mit wackeligen Videos – aufgenommen in Höhlen am Hindukusch – kündigte er immer neue Anschläge an. Ästhetisch änderte sich darin nur eines: der Bart ergraute. Schmuggler schleppten Bänder über Berge, meist nach Katar zum dortigen TV-Sender Al Jazeera. Heute schneiden IS-Cutter auf leistungsstarken Laptops und laden Beiträge sofort ins Netz.
Der gefilmte Horror setzt westliche Medien vor ein Dilemma. Was darf, was soll man zeigen? Der US-TV-Sender Fox veröffentlichte das Video der Verbrennung des jordanischen Piloten auf seiner Website – und löste einen Sturm der Entrüstung aus. Das stütze die Propaganda der IS, verletze die Ehre des Opfers. Zensur bringe nichts, wehrte sich Fox. Zumal jeder die Bilder über Google rasch finde. Um den «Wahnsinn zu zeigen», druckte die «New York Post» ein Bild des lodernden Jordaniers aufs Titelblatt.
Gräuel und Horror prägen jeden Krieg. Vor drei Jahren erschoss ein Amerikaner in Afghanistan 16 Zivilisten, meist Frauen und Kinder. Er übergoss sie mit Chemikalien und zündete sie an. Im März 1968 ermordeten US-Soldaten im vietnamesischen Dorf My Lai 504 Menschen. Sie verstümmelten, trennten Ohren ab, Zungen und Köpfe. Sie vergifteten Brunnen, verbrannten Vorräte. Deutsche vergasten Millionen von Juden, Millionen starben im russischen Gulag.
Meist surrten Kameras und erstellten Beweise gegen die Kriegsverbrecher. Am US-Fernsehen war der Vietnamkrieg ein höllisches Seriendrama. Deshalb wohl wandte sich das Volk gegen den Krieg.
Seither zensuriert das US-Militär alle Bilder von Schlachtfeldern.
Der IS hingegen will, dass die ganze Welt den Horror sieht.